Es hat klar etwas mit dieser Tatsache zu tun, dass meine eigene Feierlaune, soweit ich mich erinnere, mein Willen zur Euphorie in jenem Herbst, dem Herbst 1990, ziemlich begrenzt war. Deutschland, das war ein unangenehmes, belastetes Wort, das mir zu dem Zeitpunkt nicht leicht über die Lippen ging. Dass ich mit dieser Skepsis nicht allein war, zeigte sich schon im ersten Winter, die Mauer war noch keine drei Monate offen, als ich beim letzten gemeinsamen Urlaub mit den Eltern im Erzgebirge zusammen mit einer kleinen Meute Jugendlicher nachts Deutschlandfahnen auf fremden Grundstücken herunterriss…, ein, wie ich mich erinnere, gängiger Sport in jener Zeit. Das Ganze hatte weniger mit politischem Sachverstand oder Ideologieprogrammen zu tun. Ich handelte aus einer Intuition heraus. Ich empfand eine Abwehr gegen all jene, die so schnell wie möglich vergessen wollten und erst recht gegen die gefährlichen Großmaul-Würstchen, die glaubten, aus der Zugehörigkeit zu diesem wiedervereinten Land ließen sich persönliche Stärke und Selbstwertgefühl ableiten.
Eine meiner Erkenntnisse damals war: Offenbar konnte man aus guten Gründen falsche Überzeugungen gehabt haben. Deshalb auch war es keine große Sache, seine Ideale und Überzeugungen herzugeben, sie scheinbar zu vergessen. Die Erwachsenen taten es jeden Tag, ohne dass man gleich zugrunde ging. Wie leicht sich alles über Bord werfen ließ. Alle wirkten plötzlich so verändert. Wie naiv ich gewesen war, dachte ich, dass ich das und so vieles andere erst in diesem Moment begriff. Ich schämte mich. Indem ich die Fahnen herunterriss, glaubte ich für einen Augenblick die Vergangenheit zu retten, meine Herkunft. Ich begriff auch, dass jetzt andere Geschichten an der Reihe waren, eine andere Erzählung begann.
Die Fahnengeschichte setzte sich fort, als ein paar Monate darauf fünf meiner Mitschüler und ich zu einem Kreativwettbewerb in die USA eingeladen wurden. Kurz vor der Abreise, schon auf dem Weg zum Flughafen, wurde uns bewusst, dass wir in Amerika ja Deutschland vertreten würden. Beim Einmarsch (!) der Nationen im Stadion (!), so hatte man uns gesagt, wäre selbstverständlich eine Fahne zu schwenken. Also machten wir kehrt, rasten bei jemandem vorbei, in dessen elterlichem Keller noch eine DDR-Flagge herumlag. Während der Fahrt nach Tegel trennten wir hastig das aufgenähte Arbeiter-und-Bauern-Emblem ab: Es blieb ein blasser Kreis. Keiner von uns hatte je diese Fahne ernsthaft geschwenkt, aber dort in der Fremde war es ein Leichtes. Wir, die wir uns nicht so recht zugehörig fühlten – schließlich waren wir gerade erst aus einem anderen Land entlassen worden – wir parodierten uns selbst. In der Fremde spürten wir zum ersten Mal das Befreiende dieser Situation. Nicht nur die geografische Entfernung, auch der Geschichtsraum, der uns zu Hause alle so fest umklammert hielt in jenen Jahren, verlor für ein paar Tage seine Bedeutung: Wall, what wall? fragten die Amerikaner in Knoxville, Tennessee. Die Welt war eindeutig groß.
Gleichzeitig erinnerte uns die Entfernung aber daran, dass die Herkunft durchaus kein weißes Blatt war, das wir nach eigenem Gefallen vollkritzeln konnten. Immer stand schon etwas da, was in Abständen neu entziffert werden wollte, und mit den Jahren sahen wir immer eine leicht andere Version, so wie ich es bei Milan Kundera später las: „Das Kleid der Vergangenheit ist aus schillerndem Taft gemacht, und jedes Mal, wenn wir uns danach umdrehen, sehen wir es in anderer Farbe.“
Nicht nur, was die Vergangenheit betraf, auch, was die Zukunft anging, wurden meine Vorstellungen korrigiert: Ich hatte nicht nur im Schnelldurchlauf Aufklärung über meine Herkunft erfahren, neue Wahrheiten und eine andere Geschichtsdarstellung bzw. eine Vielzahl anderer Darstellungen kennengelernt. Auch über mein künftiges Leben wurde ich damals neu informiert. Fast könnte man sagen: In meiner frühen Jugend hatte alles schon geschrieben gestanden, im Großen wie im Kleinen, die Unumstößlichkeit einer Zukunftsversion, die eben keine Vision war. Nun wurde das Zeitstrahl-Prinzip, das mir bisher suggeriert hatte: Es geht mit uns allen, der sogenannten Gesellschaft, prinzipiell zum Besseren, abgelöst von etwas anderem, einem Bild, das eher an ein Gemälde von Jackson Pollock erinnerte, und in dem weder Hierarchien noch ein Zentrum oder eine Richtung auszumachen waren.
Ich habe erst später verstanden, was für einen fabelhaften Hochstand die neunziger Jahre abgaben. Als jemand, die erwachsen wurde in jenem Jahrzehnt, stand mir nicht nur die Welt nach vorn offen. Jene Jahre boten auch einen aufschlussreichen Rückblick auf das zu Ende gehende 20. Jahrhundert und dessen Panorama aus Verfehlungen, Auswüchsen und utopischen Irrwegen. Wer solche Blicke in die historische Landschaft werfen darf, ist nicht mehr in der Lage, voller Naivität mitzutun bei überschwänglichen Zukunftserzählungen. Belehrt durch die Irrtümer und Vergeblichkeiten, die vor mir begangen worden waren, empfand ich mich als „leidenschaftlich geheilt“ von jedem Versprechen, was die grundsätzliche Änderung menschlichen Zusammenlebens angeht. Eine Einladung zum Abkürzen…? Jenseits von persönlichen Erfahrungen des Scheiterns oder Gelingens, von Verlust oder Erfolg schien sich damals ein Leitspruch in nicht wenigen meiner AltersgenossInnen auszuprägen, der lautete: Alles was ist, geht vorbei und hinterlässt meistens unschöne Spuren.
Nicht gerade ein feuriges Starterpaket. Das überlegene Lächeln angesichts der Sackgasse, in der jede utopische Bewegung münden muss, es stand früh auf unseren Gesichtern. Wir wurden abgeklärte Spezialisten in Sachen Systemvergleich und Verflüchtigung. Und Pragmatiker, was das Thema Entwicklung angeht: Es gibt keine Nullpunkte in der Geschichte. Keine totalen Neuanfänge. Die Parolen vom Nachvorneschauenmüssen und Ankommen in einer Gesellschaft, die uns allen so oft um die Ohren gehauen wurden, waren genauso sinnlos wie eine Glorifizierung oder angstvolle Starre angesichts einer bestimmten Vergangenheit. Wir freuten uns. Wir waren davongekommen. Eine eher unerquickliche Zukunft war uns erspart geblieben. Allerdings ist Davongekommensein und die Freude darüber kein Programm fürs Leben. Übrigens so wenig wie bloßes Freisein eines ist.
Aus alledem lässt sich erahnen, dass ein gewisser Zwiespalt vorprogrammiert war. Ich erinnere mich, wie mir 1994, ich hatte inzwischen ein Studium an der neugegründeten Universität Potsdam begonnen und war konkret wie metaphorisch auf dem Sprung nach Frankreich, wie mir also bei einer Begegnung mit einem älteren Herrn einmal die Gesichtszüge entgleisten. Dieser ältere Herr hatte mich für eine Münchnerin gehalten. Eine Münchnerin! Angesichts dieser Bemerkung begann ich derart heftig zwischen Wut und Freude zu schwanken, dass es mir buchstäblich die Miene zerriss. Dass er nicht sah, woher ich wirklich kam, konnte nichts anderes bedeuten, als dass ich meine Herkunft verraten hatte. Gleichzeitig jubilierte etwas in mir: Meine Assimilation mit der neuen Welt war geglückt! Ich war zerrissen, zwischen Scham und Stolz, zwischen Schmerz und Erleichterung. Aber was hätte meine Zugehörigkeit zu diesem Land deutlicher demonstrieren können als genau diese Zerrissenheit an der „deutschen Frage“, die ich als lästig wahrnahm, etwas, das mir durch meine Herkunft aufgedrängt wurde – vielleicht der Grund, warum ich mich so heftig dagegen sträubte. Es war egal, welcher Seite ich mich zuschlug: Ich war längst eingesponnen in das deutsch-deutsche Gespinst.
Und zwar nicht erst seit 1989. Wie immer beginnt alles viel früher. Jede Geschichte hat ihre Vorgeschichte. Ich habe erst mit Verspätung begriffen, wie sehr ich, nun vielleicht nicht gerade ein Nachkriegskind, zumindest aber doch ein Nachnachkriegskind war. Das hat zu tun mit den Geschichten, die mich von frühester Kindheit an begleiteten: In Büchern, Filmen, Fotobänden, in den mehr oder weniger flüchtigen Diskursen rings um mich her stand ich, wie mir scheint, permanent im Krieg. Während meine reale Lebensumgebung eine durch und durch friedliche, ja geradezu langweilige war. In den Geschichten meiner Kindheit ging es immer um Leben und Tod. Nicht als fiktives Abenteuer, sondern als Episoden aus einem wie gerade erst zu Ende gegangenen Kampf, der noch immer fühlbar war. Die Bücher und Filme, die mich damals beeindruckten, waren Geschichten über WiderstandskämpferInnen, Spione, Menschen im KZ, Menschen, die ihr Leben für einen Menschheitstraum ließen. Solche Anfänge brennen sich ein. Ich kann mich noch gut an die Irritation erinnern, als ich einmal, ich war neun oder zehn, ein Kinderbuch aus Westdeutschland geschenkt bekam. Es hieß: Claudia erobert ihr Pony.
Wenn ich also lange Zeit nicht dazugehören wollte zu „Deutschland“, nicht „deutsch“ sein wollte, hat das zu keinem geringen Teil mit dem Schauder dieser Geschichten zu tun, die als Mahnung, Warnung oder einfach nur als spannende Storys durch meine Kindheit gegeistert waren und mir allesamt sagten: Deutschland – das ist nicht gut.
Und nur so lässt sich auch ein Gefühl erklären, das nach der Revolution viele Jahre lang bei allem, was ich tat, mitschwang: Ich war in eine sonderbare Zeit gestürzt worden. Sie erschien mir einerseits freier, aufregender, unterhaltungswütiger, verrückter und voller Angebote, die ich eindeutig und aufs Heftigste goutierte, gleichzeitig aber undramatischer, belang- und gefahrloser, sogar unschuldiger. Als wüsste sie nichts von sich selbst. Auch wenn die wohltemperierte Zeit Erlösung gebracht hatte – ein Druck fiel von mir ab, der Krieg verschwand aus meinem Kopf – schlich sich noch manchmal quälend und scharf die Frage aus früheren Zeiten an, an denen sich mein kindlicher Moralapparat geschult hatte. Wäre ich auch so mutig wie die Menschen, über die ich gelesen hatte? Eine Frage, die umso bedrängender war, weil meine geheime, beschämende Antwort immer gelautet hatte: Nein. Und außerdem: Für welche Sache, welchen Menschheitstraum, hätte man in der Gegenwart sterben können?
Verstehen Sie mich richtig. Der von mir beschriebene Zeitensturz hat nichts zu tun mit den Kategorien üblicher Geschichtsschreibung. Es handelt sich um innere Bilder, die einen mythologischen Bereich berühren, weil in ihnen Grundansichten von Zeit, Geschichte, Zukunft, Vergangenheit und dem möglichen Sinn des Lebens erschaffen werden. Man kann sie belächeln, kann sie später revidieren, aber ich habe keinen Zweifel, dass es solche intuitiven, früh angelegten Vorstellungen sind, die uns auch später oft lenken, die uns ein Gefühl der Fremdheit oder Zugehörigkeit empfinden lassen und mitentscheiden, warum wir mit bestimmten Menschen Allianzen im Leben schmieden und mit anderen nicht. Sie sind wie ein Nachtlicht, das sanft, aber spürbar im Hintergrund brennt. Wir bleiben in seinem Bann. Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux hat es einmal so ausgedrückt: „Die äußere Geografie ist leichter zu wechseln als die innere Prägungslandschaft.“
Überhaupt „die Franzosen“. Wie später noch oft in meinem Leben waren sie es, genauer gesagt bestimmte französische AutorInnen, die für Klarheit sorgten in der sozialpsychologischen Abteilung meines Hirns. So erzählte mir Annie Ernaux beispielsweise, dass ein Schnitt durch die Gesellschaft nur selten geografisch verläuft, wie wir in Deutschland ja gern glauben, sondern durch die Milieus. Angewendet auf meinen Fall und die Literatur bedeutete dies: Ich hatte mit der bildungsbürgerlichen, künstlerisch durchwobenen DDR-Mediziner-Boheme eines Uwe Tellkamp womöglich weniger Erfahrungshorizont zu teilen als mit den Jugenderinnerungen eines Offizierssohns aus, sagen wir, Niedersachsen, in dessen Erzählungen von Pflichterfüllung, Geschichtsbezogenheit und latenter Abwesenheit des Vaters ich mich naturgemäß leichter wiederfand. Ernaux erzählte mir, dass Migrationsbewegungen zwischen sozialen Schichten genauso problematisch innerhalb einer Nation geschehen wie zwischen einzelnen Staaten. Eine Erkenntnis, die der dt.-dt. Diskurs, der mindestens zwei Jahrzehnte gedauert hat, lange überdeckt oder in die falsche Richtung gelenkt hat.
Bei Jean-Philippe Toussaint las ich, wie man auf subtile Weise an der Freiheit verzweifeln und dies sogar produktiv machen konnte, indem man darüber schrieb. In seinem kurzen Roman „Das Badezimmer“, den ich Anfang der neunziger Jahre las, verbringt der Held seine Tage Fußball schauend in einer leeren Badewanne. Einmal seufzt er: „Ich müsste ein Risiko eingehen, das Risiko, die Seelenruhe meines abstrakten Lebens zu stören, um.“ Der junge Mann im Roman kann den Satz nicht beenden. Hätte er mich gefragt, ich hätte ihm nicht helfen können. Offenbar wussten wir beide nicht, an welcher Idee, die größer war als man selbst, sich ein inneres Feuer entzünden ließ.
Nichts ist unveränderlich. Diese Erfahrung war im Herbst 1989 eine Erleichterung. Der Geschichtsraum ist offen. Das kann man als Chance begreifen. Man kann es aber auch fatalistisch sehen: Beim Fortgang der Geschichte sind immer auch Schicksalsmächte mit am Werk oder aktueller ausgedrückt: unwägbare Faktoren. Eine Sichtweise, für die der Volksmund bekanntlich die eingängige Sentenz gefunden hat: Und erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Was nichts anderes heißt, als dass man sich grundlegend auf Instabilitäten vorzubereiten hat, in den kleinen Beziehungen des Lebens genauso wie in der sogenannten Großen Geschichte. Wobei die kleinen ja vielmehr zählen, denn wenn wir in die Jahre kommen, rechnen wir kaum die geschichtlichen Ereignisse zusammen, von denen wir im Laufe unseres Lebens gehört haben. Im Gegenteil, sie kommen uns eher wie das Nebenbeigeplätscher eines Nachrichtensenders vor, während wir uns an die Liebe zu einem konkreten Menschen, an Hass, Euphorie und Verzweiflung beinahe körperlich zu erinnern imstande sind.
Apropos Erinnern. Dieser Tage wird sie oft beschworen: die gemeinsame Erinnerung. Leider gibt es sie nicht. Das Erinnern hat nichts Verbindliches, nichts Verbindendes. Im Gegenteil, es beweist nur das Ausmaß unserer Einsamkeit. Das weiß jeder, der mit seiner Ehefrau, dem Ehemann oder den Kindern über die Urlaubsreise vor zehn Jahren sprechen will. Von jedem Ereignis gibt es mindestens eine weitere Version, die die eigene vielleicht nicht hinfällig macht, aber doch beängstigend relativ wirken lässt.
Es ist klar: Allein schon die Unterschiedlichkeit des jeweiligen biografischen Moments, in dem wir das Ereignis der Revolution und der Einheit erlebt haben, macht es unmöglich, ein ganzes Volk auf ein gemeinsames Gefühl einstimmen zu wollen. Für den einen war es der lang ersehnte Traum, für den anderen ein gescheitertes Utopie-Projekt, für den dritten eine beängstigende Vorstellung, und die allermeisten hatten sich gar nichts gedacht.
Aber hier geht es, glaube ich, noch um eine andere Entwicklung.
Vergrößert man das Familienbild, das ich eingangs erwähnt habe, auf die Gesellschaft, so ließe sich sagen: Kohärente oder wenigstens minimal kohärente Gesellschaften sind solche, die bei allen Meinungsverschiedenheiten zu Omas Neunzigstem doch zuletzt gemeinsam an einem Tisch sitzen und einen Grund zum Feiern sehen. Viele Indizien sprechen dafür, dass immer weniger Menschen Lust dazu haben. Sie sehen keinen Grund, es zu tun. Nicht etwa aus historischen Gewissenbissen, wie ich sie in meiner Feierunwilligkeit vor dreißig Jahren verspürt habe. Nein, sie finden sich nicht mehr im Album, sie vermissen ihr Foto, sie kommen ihrer Meinung nach nicht vor in der Erzählung.
Wenn jeder nur noch sich und seinen Bedürfnissen gegenüber steht, wenn jeder auf seine persönliche Freiheit pocht, verschwindet das Gegenüber, der Andere. Zu unterschiedlich und in sich zerklüftet die „Gesellschaft“, die nur noch in Anführungszeichen gedacht werden kann, zu vereinzelt die Hoffnungen, die Absichten und Enttäuschungen. Wir suchen jeder nach Freiheit, aber was heißt das schon? Wir suchen jeweils nach einer anderen Art, wir kreuzen uns in unseren Absichten, in unserer Absicht nach Freiheit. Das ist kein Marsch Seite an Seite. Die Fähigkeit zu Empathie und Kooperation stößt an ihre Grenzen. Eine gemeinsame Empfindung in Bezug auf gemeinsame Problemlagen (oder eben Feiertage) zu entwickeln, scheint sich nicht mehr auf eine selbstverständliche Weise herzustellen.
Dieser Tag erinnert mich daran, dass es neben der ewigen Finanzfrage – dem jahrzehntelangen Geschwätz von den Kosten – eine viel wichtigere gibt, die sich in keine Statistik zwängen lässt: Was halten wir für unverzichtbar in unser aller Leben außer dem Geld? Was hält ein Land zusammen?
Vielleicht müssen wir es hinnehmen, auch wenn manche von uns es sich anders vorstellen. Man kann nicht alles für alle wünschen und wollen. Nicht mal die Freude. Oder am wenigsten die.
Das alles mag Ihnen wenig zuversichtlich erscheinen.
Aber ich stehe ja hier als Schriftstellerin. Zuversichtlich machen mich deshalb Stunden wie diese jetzt gerade: Während ich gesprochen habe, haben Sie sich nicht informiert, sie haben keine Mails oder Petitionen verfasst, sie haben sich nicht entrüstet. Sie sind eine kleine Gemeinschaft des Zuhörens gewesen. Sie haben innegehalten. Das ist alles. Das ist sehr viel. Erzählungen schlagen einen gemeinsamen Kreis um uns. Nur wer eine Erzählung hinbekommt, kann Gemeinschaft stiften. Das scheint mir allzu geringgeschätzt zu werden.
Dort, wo das Erzählen gelingt, schafft es Gerechtigkeit, und zwar einfach dadurch, dass es keine Urteile fällt. Das gute Erzählen ist da, wo wir aufatmen, wo nichts bissig und bellend verteidigt werden muss, sondern wo das Leben zum Vorschein kommt. Es darf dasein und in Ruhe angeschaut werden. Als Lesende und als Schreibende sitze ich nicht zu Gericht und ich schieße auch nicht auf irgendwen, dafür dauert das Schreiben eines Romans, ja selbst einer Erzählung viel zu lang, stellen Sie sich ein Projektil vor, das unendlich langsam auf sein Ziel zufliegt, ein absurdes Bild…
In einem Fernseh-Interview zu ihrem neusten Roman „Schicksal“ hat die Autorin Zeruya Shalev kürzlich entsetzt aufgelacht, als eine Journalistin sie fragte, ob sie mit ihrem Buch eine Debatte anstoßen wolle. Nein, nein, wehrte Shalev ab, wie abwegig dieser Gedanke, eine Debatte entfachen zu wollen… Literatur sollte nicht zu Debatten führen, sie sollte das Redenwollen für Augenblicke zum Schweigen bringen und in ein Innehalten verwandeln. Wir wechseln das Zeitgleis, tarieren unsere emotionale Gestimmtheit aus… Wir verursachen eine Pause im Erregungsstrom. Heißt nicht Literatur immer, über seine Lebensverhältnisse in Unsicherheit zu geraten, skeptisch den eigenen Auffassungen gegenüber zu werden, einfach, indem man anderen beim Leben zuschaut? Nicht durch Erklärungen, Informationen oder Denkgebäude. Kunst ist nicht Erkenntnis oder Information – leider wird das oft verwechselt, es ist eine – nein, nicht mal eine Schule der Empathie. Es ist eine Einladung, eine Verlockung, eine Verzauberung. Literatur macht immer, dass man sich letztlich selbst abgleicht und befragt, wie lebe ich denn, was noch lange nicht heißt, dass man dieses Leben ändern könnte oder müsste.
Manch einer von Ihnen hat in der letzten halben Stunde sicher gedacht: Müsste es an einem solchen Tag nicht mehr Pathos geben, ein wenig mehr Huldigung, Applaus für die Errungenschaften? Tatsächlich habe ich von so vielem nicht gesprochen, was zu dem Thema gemeinhin gehört. Von den Anstrengungen und den sogenannten Leistungen, die von vielen Menschen erbracht wurden, von dem Ideenreichtum und der Flexibilität, vom Gelingen und der Selbstverständlichkeit, in diesem Land zu leben. Ich hätte auch kritischere Töne anschlagen können: dass die staatliche Einheit nur bedingt auch zu einer gesellschaftlichen Angleichung von Ost und West geführt habe. Wieviel ist versäumt worden oder ganz und gar misslungen! Oder ich könnte Sie – uns alle – ein letztes Mal bitten, Schluss zu machen mit der Rede von „ den Ostdeutschen“, damit aufzuhören, sie als eine homogene Masse zu labeln und sie „endlich in die Individualität zu entlassen“, wie Monika Maron schon vor Jahren geschrieben hat. Aber ich habe den Eindruck, diese Sachen lassen sich nicht mehr so einfach dahersagen. Seit geraumer Zeit kommen mir die Verwerfungen zwischen Ost und West nur noch wie ein kleinteiliger Streit zwischen ältlichen Cousinen vor, die in irgendeinem Nebenraum zanken und dabei zu spät mitkriegen, dass im Saal längst die Torte explodiert ist…
Dieses Empfinden entspricht einem Zustand, wie ihn der Historiker Martin Sabrow festgestellt hat: „Die Einheit“, schrieb er vor drei Jahren, „die Einheit hat an Pathos, aber auch an Empörungskraft verloren. Der 3. Oktober ist eher ein Staatsfeiertag anstatt ein Nationalfeiertag.“ Ich möchte hinzufügen: Das ist nichts, was sich bedauern oder gar mit Entrüstung konstatieren ließe.
Eher etwas, das uns aufatmen lassen sollte: Wir haben keine gesamtdeutsche Großerzählung, keinen Einheits-Mythos, wir haben viele Erzählungen. Sie haben heute eine davon gehört.
Deshalb möchte ich auch mit einem Bild enden, einem nächtlichen, das sich mir beim Schreiben dieser Rede von Beginn an aufgedrängt hat und die hier angesprochenen Dinge vielleicht noch einmal in ein direkteres Licht zu rücken vermag.
Heute vor 31 Jahren, am 3. Oktober 1990, ging ich mit einem Jungen durch die Dunkelheit spazieren. Wir waren gerade erst dabei, ein Paar zu werden, weshalb wir eher zögerlich umschlungen gingen. Wir liefen auf dem ehemaligen Mauerstreifen. Heute wundere ich mich: Kaum ein Jahr nach der Öffnung der Grenzen war die Mauer bereits nur noch eine glatte, leicht gewundene Betonspur? Sie führte am Wasser entlang von Potsdam aus Richtung Kohlhaasenbrück. Auf einer Brücke blieben wir stehen. In der Ferne ging über Berlin das Feuerwerk los. Ach ja, es war ja Tag der deutschen Einheit. Um dem bedeutenden geschichtlichen Augenblick Genüge zu tun, nahm ich einen Ost-Pfennig, der sich – offenbar noch vom letzten Winter – in meiner Jackentasche befand und warf ihn feierlich-spöttisch ins Wasser. Er war so leicht, dass der Wind ihn sofort in die Nacht davontrug. Das tat mir leid, aber nur ganz kurz. Die Wahrheit ist, ich dachte in dem Moment nicht an Geschichte, oder höchstens an die meines Lebens. Ich war gespannt, gespannt auf das, das vor mir lag, die Liebe.