Der klassische Held und die Freiheit oder Taugt der unbehelligte Mensch für die Literatur?

oder Taugt der unbehelligte Mensch für die Literatur?

»Bella triste«, Nr. 25/2009
»DIE ZEIT«, 31.12.2009

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Vor einiger Zeit sah ich einen mittlerweile vierzig Jahre alten Dokumentarfilm, „Nachrede auf Klara Heydebreck“: die Lebensgeschichte einer ganz und gar unbekannten West-Berliner Rentnerin, die Selbstmord begangen hat. Offensichtlich überrascht von der Tat, versuchen Verwandte, das Hausmeisterehepaar, Nachbarn und der mit dem Fall betraute Polizist ein Bild von der Frau zu geben. Mit frappierender – für die damalige schwarz-weiße Zeit üblicher? – Menschenunkenntnis beschreiben die Befragten sie dann aber allesamt nur als „alte Jungfer“, „irgendwie komisch“ oder „eben anders“. Keine Vermutung darüber, warum sie zurückgezogen lebte, nicht verheiratet war oder wie sich verschüttete Wünsche oder Erlebnisse auf die Psyche eines Menschen auswirken können. Nur wenige Dinge blieben übrig von ihr: Theaterprogramme, Beweise einer Leidenschaft fürs Malen und den Chor. Was bleibt, ist der Eindruck eines Geheimnisses. Dieses Geheimnis aber ist kein objektives. Es entsteht, wenn ein Mensch mit seinen Träumen und Fähigkeiten nicht in die aktuelle Gesellschaftsnorm passt, wenn er im Verborgenen halten muß, was er zu anderen Zeiten vielleicht ausgelebt hätte. So blieb die Frau ausgebremst – vermutlich auch sich selbst unbekannt – bis zu ihrem Tod eingeschlossen in das enge Korsett ihrer Epoche, der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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Ich denke daran, daß noch bis vor kurzem aus dieser Situation fast alle Literatur geboren wurde: wie der Einzelne mit seiner Zeit, die immer größer ist als er, kollidiert, sie manchmal beherrschen lernt, meistens aber gegen sie lebt, an ihr zerbricht oder in ihr verschwindet. Wie er sich aus der Umklammerung durch die Gesellschaft oder eine politische Ordnung herauszuwinden versucht. Antigone muß sterben, weil sie gegen die Staatsräson handelt, Werther, weil die Standesschranken ihn am Leben und Lieben hindern, Christa T. scheitert an einem Land, das den Einzelnen mit seinen Träumen und Hoffnungen verkümmern läßt … Ob Göttergebot oder lähmende Traditionen, lustfeindliche Kirchenwelten oder mörderische Diktaturen, labyrinthische Bürokratien oder kriegerische Epochen – überall Zwänge, Übergriffe, Einengungen und Beschränkungen, an denen sich die Helden abarbeiten. Die Geschichte der Literatur ist auch als eine der Befreiungsversuche davon zu lesen.

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Verändert es die Literatur, wenn sie in einer Gesellschaft entsteht, die nicht eine dauernde Behinderung der persönlichen Entfaltung bedeutet, sondern im Gegenteil die Selbstentfaltung zum täglichen Programm erhebt? Wenn die Figuren sich nicht mehr Schranken gegenüber sehen (ob sie daran nun zugrunde gehen oder nicht), sondern dem unendlich freien Raum? Der lebensweltliche und damit auch literarische Standardkonflikt der letzten Jahrhunderte, der Kampf des Einzelnen gegen eindeutige Zwänge und Vorherrschaften, scheint als dramaturgischer Kitt der Literatur nicht mehr angemessen. Wenn die Internatsmauern übersprungen sind, die Provinzen problemlos verlassen wurden und Liebesbeziehungen ohne Todesdrohung unspektakulär eingegangen werden, beginnt unsere Gegenwart. Selbstverständlich kann man noch immer Internatsromane schreiben, kann die Engstirnigkeit der Provinz thematisieren oder den Zorn eines bornierten Vaters angesichts einer Heirat. Aber man wird damit nicht die Geschichte unserer Gegenwart schreiben können. Nur Geschichten, die in der Gegenwart spielen.
In wenigen Jahrzehnten hat sich das oft tragische Aufbegehren gegen Mächte, Konventionen oder Gesetze in ein Scheitern an sich selbst verwandelt. Nichts mehr zu delegieren. Das faustschüttelnde Fluchen gilt keinem Staatschef mehr, keiner übermächtigen Vätergeneration oder gar Gott. Wir: unser eigener Feind. Wo die jahrhundertealte Gängelung und Bedrohung verschwunden sind, das Individuum aus den Klauen von Disziplinarmächten befreit wurde und die Verpflichtung zur Eigeninitiative zur alleingültigen Regel erhoben wird, stehen wir – seltsam alleingelassen – nur noch uns selbst und unserem eigenen Unvermögen gegenüber. Natürlich ist in einer solchen Welt der Konflikt nicht abgeschafft. Liebesverrat, Krankheit, Einsamkeit, Feigheit oder Tod existieren solange wie der Mensch. Mit einem Unterschied jedoch: der Umgang damit betrifft nur ihn selbst noch. Wenn die Wände, die uns umgeben, nur noch die unseres eigenen Schädels oder Körpers sind, wird auch die Schuldfrage unweigerlich zu einer persönlichen.
Verirrten sich die Helden früherer Zeiten mit ihren klassischen Konflikten in unsere Gegenwart, würden ihnen pragmatische Fragen gestellt: Was hindert Sie daran, ihren Platz in dieser Welt zu finden? Wieso verwirklichen Sie Ihren Traum nicht? Legen Sie sich nicht selbst die Steine in den Weg, über die Sie so kläglich stolpern? Ja: Ihr Lebensproblem wäre plötzlich ein ganz und gar privates.
Wenn Romanfiguren als Abbild menschlicher Erfahrung jedoch nicht mehr den utopischen Raum einer zweiten Möglichkeit ihrer Existenz erahnen lassen, fällt alles Geheimnisvolle von ihnen ab. Sie verlieren jene spezielle Tiefe, die von der Sehnsucht eines verhinderten, verratenen Lebens herrührt. Sie sind, was sie sind. Und frei, sich zu verändern. Frau Heydebreck fehlte heute längst alles Tragische. Fröhlich und unspektakulär würde sie womöglich mit einer Frau gelebt haben. Oder ihrer Schwermut wäre mit ein paar gewöhnlichen Therapiesitzungen Abhilfe geschaffen worden. Ihr Leben käme uns banaler vor – und nicht mehr gehemmt und verschleiert durch eine restriktive Zeit. Ja: Ich glaube, die klassische Situation gilt heute nicht mehr. Die Befreiung der westlichen Lebensläufe vom würgenden Zugriff durch eine wie auch immer geartete Obrigkeit hat sie allmählich verschwinden lassen.

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Heiner Müller hat die Heraufkunft unserer postpolitischen Zeit für ganz Europa genau erfaßt (und als Dramatiker gefürchtet!), als er nach 1989 sagte, die Zeit des Dramas (der klaren Gegnerschaft also, der klaren Widersprüche), sei vorbei, jetzt komme die Zeit des Epischen.
Vielleicht waren die besten Bücher der DDR-Literatur, diesem überlangen Trieb des Modernegewächses, innerhalb der gesamtdeutschen die letzten, in denen sich das Wesen des klassischen Konflikts noch massenhaft präsentieren konnte: Die heillose, oft dramatische Verstrickung des Individuums in den Fäden der Gesellschaft, in der es zu leben verdammt scheint. Von dort winkt es noch zu uns herüber: das Hadern und Zweifeln, die Selbstbefragungen (vor einem genau umrissenen Hintergrund), die Fluchtbewegungen, das traurige Abgleichen von Anspruch und Wirklichkeit, Ideal und Realität – das alles wirkt inzwischen seltsam unzeitgemäß. Käme es uns nicht lächerlich, schlicht: verfehlt vor, verzweifelte eine Figur in einem Gegenwartsroman an der Frage, wie und ob sie der Gesellschaft oder dem Gemeinschaftsinteresse dienen könne? Wenn sie spürte, dass die Liebe sie zum Beispiel von einem höherem Auftrag abhielte, sie am Fortschrittsgedanken verzweifelte, wenn es sie zerrisse, dass sie dem Zukunftsentwurf der sie umgebenden Gesellschaft nicht blind nachfolgen könnte (wer hat schon Einwände gegen Demokratien)? Wenn sie zugrunde ginge an ihrer Logik? Fragen, die wie der Samen einer inzwischen ausgestorbenen Pflanzenart herumtreiben.
Der Versuch (Wunsch?), sie auf die Gegenwart zu übertragen, muss scheitern.
Aufgrund eines wesentlichen Unterschieds. Dieser Unterschied betrifft das Verhältnis des Politischen zum Privaten. Schauen wir nur zum Beispiel zurück in diese uns noch bekannte Tabu- und Verbotsgesellschaft – und an eine solche ist der klassische Konflikt ja gekoppelt: Ob es die ungewaschenen Socken eines Jungpioniers waren, eine bestimmte Art zu lächeln, ein zu exquisiter Musikgeschmack, ein falsch angebrachter Ohrring, ein suspekter Berufswunsch: alles wurde – im Leben wie in der Literatur – vor dem Hintergrund der Gesellschaft diskutiert, die einem im Nacken saß und gleichzeitig die Zukunft war. Keine Hochzeit, keine Scheidung, nicht mal der Besuch einer Marmeladenfabrik gingen ohne das Riesentamtam der Geschichtstrommeln ab. Unaufhörlich drängte sich die Politik ins Privatleben, und der Einzelne versuchte ebenso unaufhörlich, sie wieder hinauszudrängen.
Gegenüber dieser permanenten Belästigung zu früheren Zeiten nimmt sich die Politik heute wie ein höfliches Fräulein aus. Wer mag, kann sein Leben von Anfang bis Ende unpolitisch leben. Kein Staat fährt einem in den Lebensweg, man wird nicht zwangsrekrutiert für irgendeinen Krieg, persönliche Entscheidungen müssen nicht verteidigt, sondern bloß geäußert werden, eine Liebe zerbricht statt an den Verhältnissen höchstens noch an der Blödigkeit oder dem Unwillen der Helden, es gibt keine Aussprachen für das Tragen langer Koteletten oder knallroter Hosen, man wird nicht schief angeschaut oder gar bestraft, weil man den Gottesdienst nicht besucht oder lieber in der Hängematte liegt anstatt zur Arbeit zu gehen. Politik – in unseren Breitengraden – ist etwas, um das sich der Einzelne kümmern, das er in sein Leben holen muss.
Von dieser Art absoluter Freisetzung rührt die Ohnmachtserfahrung des Individuums heute her. Dazu die beständige Suggestion, als Verursacher seines Problems auch der Löser sein zu müssen. Eine Suggestion, die nur selten zu Tatkraft führt. Denn in einer Welt, in der alles Mögliche prinzipiell Wirklichkeit werden kann, gibt es für das Handeln keine zwingenden Gründe oder Konsequenzen mehr. Die Folge ist, daß das Subjekt alles mögliche (folgenlos) tun kann.

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Der Held aus Jean-Philippe Toussaints Roman Das Badezimmer (1985) kam mir immer wie der Prototyp dieser Erfahrung vor. Toussaint war vielleicht einer der ersten, die das Drama der Widerstandslosigkeit unserer Gegenwart thematisierten, wenn auch noch auf melancholisch-ironische Art. Während der Ich-Erzähler seine Tage unengagiert und Fußball schauend in einer leeren Badewanne zubringt, seufzt er: „Ich müßte ein Risiko eingehen, das Risiko, die Seelenruhe meines abstrakten Lebens zu stören, um.“ Er kann den Satz nicht beenden. Er hat keinen Anteil an der sogenannten Gesellschaft und weiß nicht, wem die Schuld dafür zu geben ist. Es ist, als würde Josef K. ewig in seinem Zimmer hocken und darauf warten, daß einer ihn verhaften kommt.
Am anderen Ende derselben Erfahrungsskala könnte man Michel Houellebecq positionieren. Auch er thematisiert unablässig die Zumutung der Entlastung und die Sehnsucht des verlorenen Subjekts. Die Sehnsucht nach einer Welt, in der Begriffe wie Verbot, Versagung und Überschreitung noch einen Sinn haben. Sein von der Moral der Sitten befreites Individuum ist eben nicht souverän, wie von Nietzsche hundert Jahre zuvor noch vorgestellt, sondern erschöpft und zerbrechlich. Freiheit wozu? Gustav Aschenbach musste/ durfte (!) noch hinter den Paravent seiner Fantasien flüchten, Houellebecq hingegen beschreibt eine Zeit, in der alles in der Realität geschehen soll. Seine durch die Abschaffung von Verbindlichkeiten verwirrten Figuren kranken an dem Problem, nicht zu genügen – dem Attraktivitätsgebot, der Souveränitätspflicht.
Verständlich, daß die Helden solch einer um das Wesen der Gegenwart bekümmerten Literatur oft müde, leer oder doch zumindest ratlos daherkommen. Nicht nur, daß sie zu nichts, was sie umgibt „Ja“ sagen können, schlimmer noch: ihnen ist in einer entgrenzten Welt die Möglichkeit abhanden gekommen, zu einem konkreten Gegner „Nein“ zu sagen. Dieses Nein aber war Jahrhunderte lang das große Wort der Literaten und ihrer Helden. Es galt ganz einfach all jenen Dingen, die ihren Träumen und Entfaltungswünschen im Weg standen. Heute wirkt es oft nur auf die Helden selbst zurück.

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Natürlich gibt es Fluchtmöglichkeiten. Autoren und Leser stürzen sich ins Historische, ins Genre oder ins Exotische. Literatur aus Ländern wie beispielsweise der Türkei, Südafrika oder Mexiko scheint diese spezielle Sehnsucht, die man die Nostalgie der Moderne nennen könnte, zu erfüllen. Dort finden wir sie noch: die Eindeutigkeiten des verhinderten Lebens, von oben und unten, den dankbaren Kampf für das große Glück gegen eine Welt der Vorschriften und Herrschaften. Eine Welt, in der persönliches Leid noch in Zusammenhang steht mit einer höheren, zwar einschränkenden Macht, die der menschlichen Existenz aber immer auch ein Gewicht verleiht. Wo im Gegensatz zu diesen exotischen Regionen das Verbotene in die Krise geraten ist – wie in Westeuropa – müssen hingegen auch der klassische Konflikt und seine Intrige verlorengehen. Das als Katastrophe oder Drama wahrzunehmen, ist für Schriftsteller immerhin eine Aufgabe (welch schönes knarzendes Wort!).

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Am deutlichsten begreife ich, dass eine bestimmte Zeit vorbei ist und wir uns in einer anderen befinden, lese ich Bücher, in denen es noch um das Verhandeln sogenannter „letzter Fragen“ geht und großäugig am Lauf der Geschichte bzw. an der gesamten Menschheit verzweifelt wird. Denken wir an die trommelnden Zwerge, Kassandren oder Horatier, die noch bis vor ganz kurzer Zeit die deutsche Literatur geprägt haben und ja nicht bloße Verschlüsselungsparabeln auf aktuelle Lebensumstände in einem beschränkten und beschränkenden System (im Westen bis zum Ende der sechziger Jahre, im Osten bis 1989) waren. Nein, sie waren tatsächlich Abbildung des Lebensgefühls einer Epoche, Ausdruck der Bewusstseinslage von Menschen, die sich Mächten gegenübersahen, undurchdringlich, unbezwingbar, oft irrational, launisch, willkürlich. Und die vor diesem Hintergrund ebenso mächtige Fragen zu klären hatten: Fragen von Schuld, Verantwortung oder Verstrickung.
Auch bei Kritikern und Lesern gibt es eine diffuse Sehnsucht nach dieser klassischen Sichtweise aller modernen Literatur: die Forderung nach dem „Wenderoman“ in den neunziger Jahren war zum Beispiel eine solche. Eine allumfassende Geschichte, die für ein ganzes Volk, eine Epoche und eine einheitlich denkende Nachkommenschaft Gültigkeit haben sollte. Natürlich muss dieses Verlangen nach dem Schauer des Verbindlichen und Belangvollen vergeblich sein, denn es gibt ja kein Rückwärts in der Zeit. Unser Wissen um den Zwang zu Vielfalt und Offenheit und die damit verbundene Unendlichkeit der möglichen Erfahrungswelten sagt uns längst etwas anderes. Vielleicht hat der gelegentliche, leise empfundene Neid von Künstlern auf dieses Früher damit zu tun: Die tagtäglich erzwungene Auseinandersetzung, die Revolte gegen eine verspießerte oder klerikale oder politisch bevormundende Welt verschaffte dem Menschen – im Leben wie in der Literatur – den Eindruck, in einen Kampf mit etwas Großem, Titanischem verwickelt zu sein. Was sein Lebensgefühl bei aller Genervtheit jedesmal auch ein bisschen titanischer färbte, denn man weiß ja: unbezwingbare Gegner machen einen mit groß.