Von heute aus betrachtet ist es kaum zu fassen, dass sie das Mädchen gewesen sein soll, das im Februar 1990, beim letzten gemeinsamen Urlaub mit den Eltern im Erzgebirge, nachts Deutschlandfahnen auf fremden Grundstücken herunterreißt. Als Fünfzehnjährige besitzt sie keinerlei politischen Sachverstand. Sie wägt nicht verschiedene Positionen ab. Es ist eher eine Intuition, aus der heraus sie sich denen zugehörig fühlt, die seit der Öffnung aller Grenzen vor der Übernahme, dem Ausverkauf ihres Landes warnen. Als könne sie auf diese Weise die Vergangenheit retten. Eine Vergangenheit, die die Geschichte ihrer Familie ist, also auch ihre eigene. Und für die sie sich zu schämen hat, wie man ihr und Millionen anderer Bürger ihres Landes plötzlich zu verstehen gibt. Es war alles falsch, verbrecherisch und klein. Das begreift sie. Sie begreift es tatsächlich. Als hätte sie selbst etwas verbrochen, bekennt sie sich still vor sich selbst schuldig, gibt alles zu. Dieses Mädchen, das als Acht- oder Neunjährige gehofft hat, der Kommunismus würde einmal die ganze Welt erobern, das die roten Flecken auf der Karte staunend betrachtete, in der Vorfreude, dabei zu sein, wenn die Weltkarte einmal ganz und gar von diesem Rot überzogen sein würde. Später wird sie sich nicht daran erinnern. Sie kann nur glauben, was man ihr erzählt. Dass sie geweint hätte angesichts der Nachricht, dass es anders kommen würde als geplant. Aber nicht mal an ihre damalige Enttäuschung erinnert sie sich.
Der Anblick von Deutschlandfahnen wird ihr noch Jahre, vielleicht Jahrzehnte unbehaglich sein.
Beim ersten Besuch ihrer Verwandtschaft im Westen fällt ihr das CDU-Fähnchen auf, das im Obstkorb steckt. Ihre Mutter und sie wohnen eine Woche lang in einer Villa, zu der ein kleiner See und ein Jagdgebiet gehören, sie fahren mit einem Katamaran und werden in Restaurants eingeladen, in denen die Desserts mit kunstvollen Mustern aus Vanilles0ße verziert sind. Ein Traum, das alles. Wenn sie könnte, würde sie für immer hier leben bleiben. Ein Gedanke, für den sie sich sofort verachtet, er kommt ihr vor wie Verrat. Sie begreift nicht, dass ihre Eltern nicht neidisch auf diesen unerhörten Reichtum sind. Hätte ihnen all das nicht ebenfalls zugestanden, denkt sie bei sich. Hatten sie nicht genauso geschuftet, waren sie nicht immer zuverlässig, immer pflichtbewusst gewesen, dazu der zermürbende Alltag, das Anstehen, die ewigen Sitzungen, was hatten sie nicht alles ertragen! Nun hieß es, ihre Anstrengungen seien läppisch gewesen, die gemachten Erfahrungen nichtig, die Lebenspläne von einst lächerlich. Doch das Gefühl der Ungerechtigkeit scheint die Eltern viel weniger zu beschäftigen als die Tochter, die gerade sechzehn geworden ist: Kindheitsgeschichten teilend, liegt ihre Mutter ihren Cousinen und Cousins glücklich in den Armen, während das Mädchen etwas abseits steht und aus bösen Augen auf den Fernseher starrt, in dem ein Match von Boris Becker übertragen wird, von dem sie noch nie was gehört hat. In ihrem Leben hat sie nie jemanden gekannt, der Tennis gespielt hat, geschweige denn, dass sie selbst es probiert hätte. Niemand fragt, was sie für einen Sport betrieben hat, in dem sie es immerhin zur Landesmeisterin gebracht hat. Sie ist voller Wut auf die, die keine Ahnung haben von ihrem vergangenen Leben. Nein: auf die, die sich nicht die Mühe machen, eine Ahnung zu bekommen. Abends steht sie auf der Pferdekoppel, die an die Villa grenzt. Dieser unerhörte Reichtum um sie herum ist nicht selbstverständlich. Das weiß sie. Aber eigentlich glaubt sie es nicht.
Schwer zu sagen, was überwiegt: Enttäuschung, Erstaunen oder Scham. Sie sieht jedenfalls, die Erwachsenen geben ihre Biografie freiwillig her, ihre Glaubenssätze, ihre Ideen- und Gedankenwelt. Wie leicht sich alles über Bord werfen lässt! Die Menschen sind wankelmütig, verführbar, zu allem fähig. Auch sie muss ihre Vergangenheit anders betrachten. Wie naiv sie gewesen ist. Sie schämt sich. Von nichts hat sie eine Ahnung gehabt. Die ganze Welt muss sie neu ansehen lernen. Wie in einer Art Ausgleich hat sie dafür jetzt das Gefühl, von allem eine Ahnung zu haben. Als hätte das Geschehen, der Umbruch sie mit einem Sensorium ausgestattet, als hätte sie den Menschen dadurch tief in die Seele geblickt und etwas Geheimes über sie erfahren: die Wahrheit. Es ist nichts Heroisches an ihnen, wie sie als Kind geglaubt hat. Sie treiben als Teile einer unförmigen Masse auf die immergleiche Weise durch die Geschehnisse der Geschichte, werden mitgerissen, gehen manchmal ein Stück allein, um gleich darauf in eine andere Richtung gespült zu werden. Ihre Existenz: ein stetiges Schlingern durch einen dunklen Raum, in dem sie doch alle lernen, sich so weit zu orientieren, dass sie nicht auf der Stelle zugrunde gehen. Sie hätte Mitleid mit ihnen, wäre sie selbst nicht genauso.
Auch sie gibt alles auf. Sie klammert sich an nichts. Mit achtzehn, neunzehn befasst sie sich nicht mit dem, was war. Wozu auch? Ist nicht plötzlich alles so, wie sie es sich immer erträumt hat? Niemand verlangt etwas von ihr. Niemand achtet auf sie. Niemand gibt auf sie Acht. Sie ist ganz und gar frei. Sie lebt in einem beständigen Hochgefühl. Es kommt ihr vor, als würde sie immerfort rennen. Wie berauscht. Sie läuft nachts über die Brücken in der Stadt, unter ihr der dunkle Fluss. Sie trägt klobige Schuhe, eine Art Kampfstiefel, die sie sich auf einer Interrailreise in London gekauft hat. London! Der Schnitt der Kleider, die sie trägt, heißt Babydoll. Sie rennt und läuft und denkt: Das ist mein Leben!
Der Gedanke ans Weggehen, daran, alles hinter sich zu lassen, erfüllt sie mit solcher Begeisterung, dass sie es allen anderen auch empfiehlt – Geh, und mach für immer die Tür hinter dir zu!
Sie verbringt viele Monate im Ausland, wo sie jedes Mal aufatmet, wie ein Dieb oder Täter gleich hinter der Grenze erleichtert aufatmet, weil er seinem Verfolger entkommen ist. Für eine Weile gelingt es ihr tatsächlich, so zu tun, als gäbe es nichts, was sie binden oder einschließen könnte. Für eine Weile ist es möglich, ohne Ursprung oder Herkunft zu leben.
Als ein älterer Herr sie in einer fremden Stadt für eine Münchnerin hält, entgleisen ihr plötzlich die Gesichtszüge. Eine Münchnerin! Angesichts dieser Bemerkung beginnt sie derart heftig zwischen Wut und Freude zu schwanken, dass es ihr buchstäblich die Miene zerreißt. Sie ist wütend, weil er nicht sieht, woher sie tatsächlich stammt. Gleichzeitig freut sie sich, weil ihr die Assimilation in der neuen Welt offenbar geglückt ist. In den folgenden Jahren verstärkt sich die Zerrissenheit. Sie ist gefangen in dem Übergang von einer Welt zur anderen, gefangen zwischen zwei Welten, die nichts miteinander zu tun haben. Es gibt sie nicht, die sanfte Vermählung der Gegenwart mit dem Gewesenen.
Es existiert noch immer kein funktionierender Wohnungsmarkt. Sie erschleicht sich ihre erste eigene Wohnung auf dem Amt, das die Wohnungen an Bedürftige zuteilt wie früher, sechs, sieben Jahre zuvor. Bis das Haus verkauft und saniert wird, darf sie dort wohnen bleiben. Manchmal gönnt sie sich ein Croissant, bevor sie morgens mit dem Bus zur Universität fährt. Jemand hat eine Croissanterie in der Nähe eröffnet, französische Lebensart in einem Abrisshaus. Noch bevor sie ihr Studium beendet, hat das kleine Lokal wieder geschlossen. Wie beinahe alles nur ein Provisorium ist in dieser Zeit, den ersten Jahren nach dem Umbruch. Was zu dem Ramsch und Schund passt, zu dieser ganzen herrlichen, idiotischen Warenwelt, die über sie ausgekippt wird, und die sie genau wie alle anderen in rauschhafte Begeisterung versetzt …
Sie lässt sich die Haare schneiden, sehr kurz, damit sie aussieht wie der junge Mann, in den sie verliebt ist. Damals tragen viele das Haar sehr kurz oder sind glatzköpfig. Als hätte die Tabula Rasa ringsum auch die Köpfe erfasst, selbst die der Mädchen. In einem Video singt eine kahlrasierte Sängerin ein Liebeslied und weint eine echte Träne. Als eine Bekannte in einer S-Bahn-Unterführung überfallen und ihre Haare mit dem Feuerzeug auf einer Seite abgefackelt werden, fällt es nicht weiter auf: eine Seite geschoren, die andere länger. Ihr Anblick entspricht den modischen Gepflogenheiten der Zeit.
Weil der junge Mann, in den sie verliebt ist, dort wohnt, verbringt sie die Sommer in jenen Jahren in einem Dorf am Ufer des Schwielowsees, ein paar Kilometer von ihrer Heimatstadt Potsdam entfernt. Von heute aus betrachtet erscheinen diese Sommer wie eine einzige lange Jahreszeit. Die Neunziger, wie man später sagen wird: eine Zeit, in der die Menschen beständig unterwegs sind. Ein Wimmelbild, ein Gewusel, wie bei einem Kinderspiel, bei dem plötzlich alle aufspringen und durch den Raum rasen, um sich einen neuen Platz zu suchen. Manche finden ihn und lassen sich mit erschöpftem Lächeln sinken. Andere stürzen zu einem Stuhl, sind aber immer zu spät, und blicken sich ratlos um.
Sie fährt mit einem alten geborgten Rad, von dem immerfort die Kette abspringt, eine Holperstraße entlang, dann ein langes Stück durch den Wald. (Später – heute! – wird der Wald dort abgeholzt werden, für eine Autobahnauffahrt und eine große LKW-Raststätte.) Dann liegt sie da, am See, auf den Knien das Lateinlehrbuch. Weil sie Romanistik studiert, braucht sie das Große Latinum. Man sagt es ihr erst nach dem zweiten Semester. Niemand weiß genau, nach welchen Regeln die Studenten an der neu eröffneten Universität studieren sollen. Sie liebt das anfängliche Chaos an der Fakultät. Es bedeutet für sie, frei zu sein. Für eine Weile sind alle gleich in ihrer Planlosigkeit, ihrer Euphorie. Der Auftrag, neben dem Studium Latein zu lernen, macht ihr nichts aus. Die weit zurückliegende Epoche, von der die Texte handeln, ist ihr behaglich. Sie will ihre Gegenwart nicht teilen mit Autoren, die bereits über sie schreiben. Es kommt ihr abwegig vor, die Gegenwart in Worte zu fassen. Nein: Es kommt ihr obszön vor, durch und durch.
Irgendwer hat immer ein Auto. Man sitzt immer zu sechst oder siebt darin. Oft hockt sie bei jemandem auf dem Schoß, den Kopf unter dem Wagenhimmel zur Seite geknickt. Man fährt grundsätzlich alkoholisiert. Der Zustand ist erleichternd und beängstigend zugleich. Manchmal liegt jemand im Kofferraum, was mit Alkohol weniger schlimm ist. Er verschläft die Fahrt bis zur Diskothek ins dreißig, vierzig Kilometer entfernte Wittbrietzen, Jütchendorf oder Stükken.
Bei diesen Ausflügen wird sie ihr Ich los. Sie vergisst ihr Studium, den Strukturalismus, die Semiotik, all das, was sie durchaus begeistert, aber von dem sie den Leuten hier nichts erzählt. Sie hält die Welten sauber voneinander getrennt. Es ist angenehm, ohne Gedanken zu sein. In Stiefeln und kariertem Hemd tanzt sie zu Madness, zu Scarface. Vor den Großraumdiskotheken, die ein paar Jahre zuvor noch Kulturhäuser auf den Dörfern waren, kommt es manchmal zu Schlägereien. Dann rücken alle zu einem Kreis des Respekts auseinander, damit sich die Schlagenden in einem fairen Zweikampf prügeln können. Es ist viel von Ehre, Respekt und Zusammenhalt die Rede. Die Dinge werden unter sich geklärt. Niemand kommt auf die Idee, bei einer Auseinandersetzung die Polizei zu holen. (Wo befände sich überhaupt die nächste Telefonzelle?) Die Polizisten damals sind träge, unsportlich und ahnungslos. Als einmal auf dem Hof eines Kinos ein Angetrunkener mit einer Pistole herumfuchtelt, hockt sie mit anderen eine Stunde lang verschreckt hinterm Tresen, bis endlich die Streife kommt, die den Mann aber nur gleichgültig belehrt.
Punks, Heavys, Grufties, Grungetypen, Glatzen. Die Zeit macht einen sensibel für Meuten. In der Diskothek ist sie nie so betrunken, dass sie nicht immer noch ein inneres Auge geöffnet hätte, Richtung Tür. Sie gehört keiner der „Szenen“ an. Sie verkleidet sich nur. Alle können alles sein, es gibt keine Geschichte, keine Identität. Der höchste Punkt der Verwirrung ist es, als man ihre Freunde vor einer Dorfdisco, in der eine Schaumparty stattfinden soll, für Schwule aus Westberlin hält und ihnen der Eintritt verwehrt wird. Auf einer Kaffeefahrt zieht sie ein Deutschland-Shirt an. Weil sie während der Präsentation der Lama-Gold-Decken grinst, muss sie den Saal verlassen. Später nimmt der Verkäufer sie am Tresen beiseite. Er wird versöhnlich. Er sagt, er müsse das für sein Geschäft tun, dass die Alten sich in Gesellschaft feixender junger Leute nicht wohlfühlen würden. Und dass er heute unter allen Umständen Decken und Lampen verkaufen müsse, da seine Tochter Geburtstag habe. Auf seiner Hand, an der Daumenwurzel, sind drei Punkte tätowiert, das Zeichen dafür, erzählt jemand, dass er im Knast gesessen hat.
Es ist, als könne man sich der Vergangenheit genau wie der Gegenwart nur auf parodistische Weise nähern. Zu einer Party, die das Motto Tag des Metallurgen trägt, holt sie ihren alten Arbeitsanzug hervor. In der zehnten Klasse hat sie ihn getragen, wenn sie zum Unterricht in die Produktion fuhren. Einen Herbst und einen Winter lang hat sie im Karl-Marx-Werk Kugellager zu einem Metallcontainer geschleppt. Das orangefarbene Namensschild über der Brusttasche hatte sie selbst aufgenäht. Der Anzug riecht noch immer nach Metallstaub, Maschinenfett und Kantinenbouletten. Er passt ihr noch. Sie wundert sich, dass sie ihn aufgehoben hat. Hat sie geahnt, dass sie ihn einmal auf einer Party tragen würde?
Inzwischen haben sich die ehemaligen Besitzer des Hauses gemeldet, in dem der junge Mann, den sie noch immer wie verrückt liebt, aufgewachsen ist. Es wird auf schnellstmögliche Rückübertragung gedrängt. Während sie mit einem alten braunen Koffer zusammen mit ihm auf dem Weg nach Paris, Rom oder Barcelona ist, kümmert sich die Mutter um die rechtlichen Formalitäten. Sie sind nicht dabei, als sie das Haus ausräumt, die Sachen im Keller aussortiert, ein halbes Leben. Später, als er schon ihr Mann geworden ist, gehen sie manchmal daran vorbei. Die neuen Besitzer haben es grau anstreichen lassen. Das Unkraut steht hoch auf der kleinen Terrasse, die man vom Gartenzaun aus sieht. Es versetzt ihnen jedes Mal einen Stich, zu sehen, dass niemand in dem Haus wohnt, es also weniger dringend gebraucht wurde als angenommen. Während für ihn und die Mutter alles daran gehangen hatte.
Während sie immer wieder weggeht, werden die Eltern krank. Nicht nur ihre. Alle ihre Freunde kümmern sich plötzlich um irgendwen. Immer wieder findet man sich in Notaufnahmen wieder. Man begleitet die Mutter, den Vater in Kliniken, wo sie matt auf Krankenliegen sitzen, mit baumelnden Beinen wie ein Kind. Der gewünschte Überlauf nach Westen ist ein Traum, der gleichzeitig Befriedigung und Verzweiflung auslöst. Eine doppelte Gefühlslage, die ihr erst später einleuchten wird. Im Moment ist er ihr unvorstellbar. Er hat den Umbruch nicht gut verkraftet. Das kam alles ein bisschen zu plötzlich für sie. All die Veränderungen, wird es später heißen, als man schon begriffen hat, dass ihre Krankheiten eine Reaktion auf die neue Zeit waren. Eine Zeit, die sie doch immer herbeigesehnt hatten, und die sie trotzdem überforderte, nun, da sie angebrochen war. Es war, als würden die Kinder die Eltern in die neue Zeit begleiten, oder für immer hinaus aus der alten.
Manche von ihren Bekannten ziehen nach Unna, Oberursel oder Reutlingen. Sie wissen nicht, dass sie irgendwann zurückkommen werden. Aber irgendwann sind sie wieder da. Sie kommen zurück nach Hause, wo die Dinge ihnen vertraut sind. Wo die anderen wissen, wovon man spricht, weil sie sich in der gleichen Sprache ausdrücken, weil sie die Codes und Anspielungen verstehen, weil es hilft, dass man in derselben Weise über die Vergangenheit spricht, nämlich ohne sie zu erwähnen, geschweige denn zu erklären.
Nach und nach verschwinden die vertrauten Orte. Sie verwandeln sich, haben sich inzwischen ganz und gar verändert. Ein paar Jahre zuvor haben sie oft an einem kleinen Verleih für Ruderkähne am See gesessen, eine Bude und zwei drei Tische davor, an denen Bier getrunken wurde. Die Einheimischen haben das Ensemble immer ironisch „Yachthafen“ genannt. Ein paar Jahre später gibt es dort tatsächlich Yachten. Die Neuzugezogenen nennen das Ensemble „Marina“ – ganz ohne Ironie. Ein Investor hat Großes mit dem Ort vor. Er reißt das alte Ferienheim ab und stellt ein Schild auf: „Hier entsteht das Starnberg des Ostens“. Natürlich will jeder in Starnberg Urlaub machen, aber nicht in dem des Ostens. Der Investor geht pleite. Die Bewohner bleiben zurück mit der schlichten, grauen Häuserzeile, die er fürs erste errichtet hat. Ein typisches Verputzgrau, das nach ein paar Jahren im märkischen Klima eine dunkel-schmutzige Färbung annimmt. In dem Allerweltsneubau kommt eine chemische Reinigung unter, kurz darauf ein chinesisches Restaurant. Eine Zeit lang gibt es sogar eine Bar darin. Allerdings gehen die Alteingesessenen, wenn sie ein Bier trinken wollen, nicht in die Bar in der neuen Häuserzeile. Sie gehen eine Ecke weiter, in ihre Stammkneipe. Sie heißt Willkommen. Es dauert noch ein oder zwei Jahre, bevor auch hier der Abriss kommt. Am gegenüberliegenden Ufer wird die Landschaft wenig später von einem Hotel-Resort zerteilt, dessen lauschig am Ufer gelegenes Freiluftrestaurant Ernesto heißt, mit Spezialisierung auf Zigarren und Rum. Als sie 2001 tatsächlich einmal dort sitzt, mit Freunden aus dem Ausland, denen sie die Gegend zeigen will, erkennt sie dahinter zwischen limettengrünen Wiesen eine grundlos gewundene Teerstraße, auf der man im Verkehrsgartentempo zu einer Golfplatzanlage gelangt …
Das Einheimische verblasst. Obwohl sie alles hier genau kennen, obwohl sie länger hier wohnen als die Neuzugezogenen, die sich villenartige Häuser am Ufer bauen, fühlen sie sich immer mehr wie Besucher in den Dörfern und den Städten ihrer Kindheit. Sogar die vertrauten Namen, Namen von Straßen, Namen der Ortschaften selbst, werden von der automatischen Ansagerstimme in den Bussen falsch ausgesprochen. Sie wird noch jahrelang zusammenzucken, wenn sie die Stimme mit dem fremden Dialekt aus dem Lautsprecher über ihrem Kopf hört. Als sei sie in ein fremdes Land zurückgekehrt.
In Paris hat sie jedes Mal das glückliche Gefühl, an einem Ort zu sein, an dem sich nie etwas ändert.
Die junge Frau, die mal das Mädchen gewesen ist, findet alles Gemäßigte, Mittlere fade. Salongeplauder ist ihr zuwider. Es entspricht nicht den Erfahrungen, die sie gemacht hat. Sie interessiert sich kaum für die Nachrichten. Sie vergisst sie sofort. Das komisch-heilige Vertrauen in die Zeitungsmeldungen, die erhabenen Kommentare irritieren sie. Die „Diskurse“, die mit ernster Miene geführt wurden, haben nur selten etwas mit ihr zu tun. Gleichzeitig hängen ihr die Rituale und Selbstverständlichkeiten an, die Gepflogenheiten und Vorstellungen einer Welt, die nicht mehr existiert. Es ist ihr unheimlich, dass der Anblick von Uniformen ihr noch immer vertraut ist. Dass sie beim Gang durch eine Plattenbausiedlung keine Angst verspürt, sondern beinahe aufatmet. Nicht weil all das schön wäre. Der Zustand der Welt und der Menschen zeigt sich in diesen Dingen für sie unverstellt und unverlogen. Vor allem aber vertraut.
Mit zwanzig, einundzwanzig weiß sie noch nicht, dass das Hin- und Herschalten zwischen diesen Codes, den Welten, zu ihrer eigentlichen Seinsweise werden wird. Dass die äußere Geografie leichter zu wechseln ist als die innere Prägungslandschaft. Und dass sich nur schreibend dieser Art von Fremdheit ein Ende setzen lässt, wie sie irgendwann in einem Buch lesen wird.