Hebe mich heraus!

Über den Sinn von Tätowierungen

»DIE ZEIT«, 14. August 2003

Seit ein paar Jahren verwandeln immer mehr Menschen ihre Körperoberfläche in Zeichentafeln, indem sie sich Bilder hineinbrennen lassen. Statistiken ist zu entnehmen, daß inzwischen jeder vierte Berliner zwischen 18 und 35 Jahren tätowiert ist; Piercing- und Tattoostudios entstanden in Windeseile und entstehen noch immer zuhauf. Auf Armen, Rücken, Steißbeinen, Hintern, Waden oder Schenkeln werden Linien und Kreise, keltische Sonnen, Garfielde und Drachen, Rosen, Einhörner, Herzen, Totenköpfe, asiatische Buchstaben und Ähnliches präsentiert. Warum?

Ursprünglich, so läßt sich nachlesen, besaß das Tätowieren als eines der ältesten Kunsthandwerke in unserem Kulturkreis einen spirituellen Hintergrund: Bestimmte Zeichen schützten im Kampf, gaben Kraft oder heiligten Ahnen und Vorfahren, waren Versicherungen für die Zugehörigkeit zu einem Stamm. Tätowierungen klärten die kulturelle Identität oder funktionierten als Statussymbole, indem sich z.B. nur der Häuptling den Wolf einritzen lassen durfte. Ab dem 4. Jahrhundert wurde das Tätowieren als unzivilisiert, weil barbarisch und heidnisch im Gegensatz zur christlichen Weltauffassung verboten. Seitdem sind nie wieder so viele Menschen – zumal freiwillig – gezeichnet gewesen. Mittlerweile sind Tätowierungen nicht mehr Zugehörigkeitsäußerungen sozialer Randgruppen. Sie haben den Bereich der Seefahrts- und Gefängniswelt verlassen und den engen Rahmen von Rockerbanden gesprengt: ein Zeichen des Außenseitertums ist zum Zeichen des In-Seins geworden. Demokratie heißt nun auch, sich freiwillig stigmatisieren zu lassen.

Auch wenn es mittlerweile zur weitverbreiteten Modeerscheinung geronnen ist, soll das Tattoo – wie etwa die zerrissene Jeans oder der kahlgeschorene Schädel – beim Betrachter Assoziationen des Mutes, der Ruchlosigkeit und des Unangepassten freisetzen. Im Unterschied zu anderen Modetrends aber, deren Rebellenattitüde ebenfalls vom Markt übernommen und in die Gesellschaft eingepasst wurde, spielt hier der Wille zur Endgültigkeit, dem Irreversiblen auf der eigenen Haut, eine ungewöhnliche Rolle. Selbst ein weggebranntes Tattoo hinterlässt noch die Spur der einstigen Entscheidung.

In den meisten Fällen begründet der Tätowierte den Wunsch nach Bedrucktheit mit den Wörtern: Schönheit oder Coolness, manchmal werden auch esoterische Gründe genannt, wenn zum Beispiel das chinesische Zeichen für Stärke tatsächlich Stärke verleihen soll. Der Mythos scheint mit dieser Mode in unsere Moderne eingebrochen zu sein. Die instinktive Sehnsucht der Gesellschaft nach archaischen, irreversiblen Riten ist noch da, deren Sinn jedoch verloren. Geblieben ist eine leere Zeichenform, der die Füllung fehlt.

Leer deshalb, weil bei den unzähligen Tattoobildern, die einem täglich unter die Augen kommen, allein der Fakt des Zeichens an sich unsere Aufmerksamkeit beanspruchen kann, denn nur den versteht der Betrachter ganz sicher. Nicht das konkrete Motiv, das für den Einzelnen durchaus eine persönliche Bedeutung haben mag, soll hier interessieren, sondern die Tatsache des massenhaften Einbrennens von Zeichen überhaupt.

In den meisten Fällen bezeichnen die einzelnen tätowierten Muster ohnehin nichts. Selbst wenn es sich um konkrete Motive und Abbildungen handelt, sind diese nicht mit funktionaler Zwecksetzung in den Körper gebrannt (wie etwa ein Hinweisschild für öffentliche Toiletten), sondern mit einer ästhetischen. Damit stehen wir vor den Zeichen auf anderen Häuten um uns herum wie unkundige Europäer vor asiatischen Schildern. Wir sehen, daß es sich um Zeichen handelt, nicht aber, worauf sie uns hinweisen wollen, sie können uns nur sagen, daß hier ein Zeichen vorliegt. Im Gegensatz zu Asienunkundigen wäre es für uns also vergebliche Mühe, hinter dem ästhetischen Gebilde einer Tätowierung das Instrument einer konkreten Information zu suchen und davon auszugehen, daß kalligraphische Zeichen – etwa wie in Japan – eigentlich lesbar sind, nur eben für Uneingeweihte nicht. Unsere Neigung, visuelle Zeichen mit Objekten in Verbindung zu bringen und nach dem zu suchen, was sie repräsentieren, schlägt hier fehl. Tätowierungen beruhen nicht auf einem konventionalisierten, also allen geläufigen, Sprachcode. So wird das bloße Vorhandensein des Tattoos zu seinem eigentlichen Inhalt.

Ein Zeichentheoretiker würde das heutige moderne Tattoo zu den Signalen rechnen. Zeichen also, die weder etwas symbolisieren noch abbilden, sondern Hinweise auf einen Umstand geben: Wenn beispielsweise Rauch hinter den Bäumen aufsteigt, macht dies auf die Existenz eines Feuers und mögliche Gefahren aufmerksam. Auch Schreib- und Redeweisen, wie der Strukturalist Roland Barthes in seinem 1953 erschienenen Buch Am Nullpunkt der Literatur festgestellt hat, können nicht nur etwas mitteilen oder ausdrücken, sondern darüber hinaus etwas anzeigen, das außerhalb des Mitgeteilten liegt. Kraftausdrücke eines Kindes in einer wohlerzogenen Familie beispielsweise teilen weniger einen konkreten Inhalt mit, als dass sie etwas signalisieren: in diesem Fall eine Revolution en miniature. Genauso sind Tattoos nicht einfach lesbare Zeichen, sondern stellen vor allem zur Schau. Unabhängig von seinem konkreten Motiv und einer individuellen Form weist das als Signal begriffene Tattoo auf einen bestimmten Willen oder ein Bedürfnis des Trägers hin, das mal ausgeprägter mal vorsichtiger sein kann.

Neben einem oberflächlich ornamentalen Zweck oder bestimmten Identitätsfunktionen – etwa ein Skinhead am Kreuz für Mitglieder dieser Szene oder ähnliche Erkennungscodes für Gangs – soll das massenhaft verbreitete Tattoo vor allem den Willen demonstrieren, alle Moden, also das leicht Ablegbare, zu überwinden. Als Tätowierter will man sich in eine fixierte Zeit begeben, die nicht auf einer Messung nach Saisons oder Legislaturperioden beruht. So wie die Alten durch Tätowierungen z.B. Trauer dauerhaft machten – sie kannten die Sprunghaftigkeit des Menschen –, indem sie sich Name und Todestag des Häuptlings in die Haut ritzten, steht der heutige bedruckte Körper für die Suche nach einer Festlegung angesichts einer Welt des Austauschbaren. Er soll vor der dumpf empfundenen Tatsache der Ersetzbarkeit und Vergänglichkeit schützen. Eine letzte Kopflosigkeit, daß der Körper nicht mehr zu schonen ist, wenn es darum geht, als individuell zu gelten.

Inkonsequenterweise will man aber heute beides können: sich einpassen und gleichzeitig anzeigen, daß man dieses Einpassen ablehnt, man kann Verwaltungsbeamter sein und gleichzeitig mit einer Tätowierung eine ganz andere Identität, zum Beispiel die eines Unangepaßten, simulieren. Im Gegensatz zu einem vollständig tätowierten Gesicht werden die meisten Muster daher auch so aufgebracht, daß sie je nach Situation mal verborgen und mal gezeigt werden können. Damit wird das heutige Tattoo zum zitierten Zeichen eines Extrems, das selbst nicht gelebt wird. Dazu kommt, daß der Wunsch nach Individualität und Abgrenzung von anderen erst durch diese unzähligen anderen, durch die Garantie eines Aufgehobenseins im Kollektiv, gesichert wird. Man kann sich als Rebell ausstellen, ist gleichzeitig aber aufgehoben in der schützenden Wolke aller Zeichenträger. Die Individualisierung durch Kennzeichnung des Körpers, unabhängig von dessen natürlicher Ausstattung kann also nur eine scheinbare sein. Denn das Paradoxe an dieser Flut von irreversiblen Bildern, die das Ephemer-Beliebige überwinden sollen, ist natürlich, daß dies nur für einen kurzen historischen Moment gelingt. Der heutige Tätowierte gleicht dem Mann, der sich zu einer Verabredung mit einer Unbekannten wie besprochen eine Rose ins Knopfloch und eine Zeitung unter den Arm steckt, und der, auf der Caféhausterrasse angekommen, sieht, daß alle dort anwesenden Männer Rosen und Zeitungen tragen.

Trotz dieser Vergeblichkeit bleiben Tattoos dauernde Aufforderungen, sie betteln für ihre Träger: lies mich, wirf ein Auge auf mich, hebe mich heraus, erkenne wenigstens das Signal, daß ich entziffert werden will! Aber mallorquinische und ibizenkische Strände beweisen: Je weniger an tatsächlichem Ereignis da ist, desto mehr müssen Erfahrung oder Identität vorgetäuscht werden. Demnach ist das heutige Tattoo auch das selbstbeigebrachte Zeichen einer Handlungs- und Sprachlosigkeit. Das Zeichen soll das übernehmen, wozu sein Träger selbst nicht mehr in der Lage ist: durch sein Handeln selbst zu einem bestimmten Zeichen und einer Bedeutung zu werden. Dies hat nicht nur mit einer Unfähigkeit des Trägers, sondern auch mit Nötigungen dieser Gesellschaft zu tun. Als Grundmodell heutiger Ich-Entwürfe wird der Rebell weder gefürchtet noch geduldet, sondern geschätzt und verlangt. Doch man ahnt die dahinter liegende Fatalität, daß ein Aufbegehren nach alten Mustern nicht zu haben ist, weil es kein Außen mehr gibt.

Weitergedacht hieße das: Massenhafte Tätowierungen sind kein Zeichen für das Ausbrechen aus zu engen Grenzen, sondern eine Selbststigmatisierung und eine herbeigewünschte Individualität desjenigen, dem die Erfahrung des Ausbrechens aus einer „Umzäunung“ und der Revolte gerade fehlt. Diese Erfahrung kann deshalb mit Hilfe eines symbolischen Aktes nur noch zitiert anstatt gelebt werden. Die kurzzeitige Dramatik, der Schmerz beim Anschaffen einer Tätowierung, bleibt dabei die prägende Erfahrung. Je freier, unversehrter wir sind, desto größer scheint die Sehnsucht nach Schmerz: „Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selber her“ (Friedrich Nietzsche). So entspricht die künstliche Tätowierqual dem Wunsch nach echt-existentiellem Schmerz, der den Menschen normalerweise das ersehnte Gewicht des eigenen Vorhandenseins spüren lässt.