Ich habe schon immer in Europa gelebt

Rede, gehalten bei der »Pulse of Europe«-Veranstaltung an der Glienicker Brücke

19.05.2019

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Ich glaube, ich habe schon immer in Europa gelebt.
Zu Beginn, als Kind, war dieses Europa für mich ein imaginäres. Ich hatte es ja nie gesehen, aber ich stellte es mir vor.
Wenn ich mir in Kinderjahren mit anderen die Zukunft ausmalte, hieß der Ausweg für uns nicht Kassel oder Köln, nicht einmal München. Wir träumten von Rom, Paris und London. Wobei man sich die Namen dieser Städte in Anführungszeichen vorstellen muss. Europa war damals ein Wort für mich, das gleichbedeutend war mit KOSMOS. Es war die Zukunft, ALLES, was man brauchte und eines Tages auch in Besitz nehmen würde, ganz selbstverständlich. Daran hatte ich entgegen den sogenannten politischen Realitäten gar keine Zweifel.

Ich wohnte in der Bezirksstadt Potsdam.
Und Europa bedeutete eine Möglichkeit der Flucht für mich. Mit zehn hegte ich den Plan, später einmal einen Franzosen oder Iren oder Portugiesen zu heiraten, eine Art umgekehrtes Trojanisches Pferd, um das Land, mein sogenanntes Heimatland, das damals noch ganz verriegelt war, auf ewig zu verlassen.
Mit sechzehn war das dann nicht mehr nötig. Europa ist mir also glücklicherweise nicht zum Exil geworden, sondern zu einem durchlässigen Freiheitsraum.
Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es so viel Verschiedenheit auf so engem Raum. Dass es ganz in der Nähe etwas gibt, das grundverschieden ist, wo man hin kann und aufatmen – das ist Europa für mich, noch immer. Und ich habe die große Hoffnung, dass diese Grundverschiedenheit auch bleibt und nicht den unsinnigsten Angleichungen geopfert wird.

Ich konnte weggehen. Und wenn ich genug davon hatte, bin ich zurückgekommen.
Es ist ja naiv zu glauben, es gäbe auf der Welt Orte oder sogar Länder, die besser sind als andere. Aber manche sind in bestimmten Lebensmomenten ein bestimmter Ort einfach richtiger als ein anderer und helfen beim Überleben.
So wie die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann sich in den fünfziger Jahren aufgemacht hat und nach Rom geflüchtet ist, weil sie sonst nicht überlebt hätte in dem grausigen Wien oder Berlin von damals.
So wie die französische Schriftstellerin Marie N’Diaye sich vor der französischen Politik von Sarkozy nach Berlin geflüchtet hat, bevor sie vor ein paar Jahren wieder zurückgegangen ist nach Frankreich.
Oder Peter Handke, der nach Spanien und Frankreich gegangen ist, weil er dort vielleicht besser über Österreich nachdenken und schreiben konnte.
So hab ich mich in den neunziger Jahren nach Paris und auch nach Rumänien geflüchtet, zum Durchatmen, auf der Suche nach einer Vergangenheit, die ich hier im wiedervereinten Deutschland gar nicht mehr fand.

Ein Bild, das mir jetzt wieder eingefallen ist: wie ich 1990 in der Straßenbahn stehe, hier in Potsdam, auf dem Weg von der Schule nach Hause. Und draußen auf der Straße ging plötzlich ein junger Mann, ein Franzose, den ich ein paar Wochen vorher an der Atlantikküste kennengelernt hatte. Ich sprang aus der Bahn, ich konnte es nicht fassen, dass er hier war. Er reiste durch Europa, wie er mir erzählte, mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken, wir verständigten uns mit Händen und Füßen, ich sprach damals noch nicht sehr gut Französisch, er überhaupt kein Deutsch. Ich lud ihn ein, nach Hause, ich wohnte ja noch bei meinen Eltern, aber er wollte nicht, er wollte bei niemandem zu Hause sein, da hätte er nur Heimweh gekriegt. Er war ein bisschen melancholisch, er wirkte verloren, vielleicht hatte er sich auch zu viel vorgenommen, so viele verschiedene Länder. Eigentlich wollte er vor allem zurück, glaube ich, in die Stadt, aus der er kam, nach Nantes.
Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, aber ich hab immer noch das Buch, das er mir zum Abschied geschenkt hat, mit seiner Widmung darin. Wir standen in der Nähe einer großen Buchhandlung, die es damals hier im Zentrum gab, und er rannte hinein und kaufte das Buch für mich. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, ein Roman von Milan Kundera, von dem ich noch nie was gehört hatte.
Was er mir da geschenkt hatte, war also das Buch eines tschechisch schreibenden Autors, der in Frankreich lebte, und das ins Deutsche übersetzt worden war, damit ich es lesen konnte.
Das Übersetzen ist für mich etwas sehr Europäisches. Von einer Region in die nächste. Und damit natürlich auch das Übersetzen.
Der Übersetzer ist überhaupt die wichtigste Figur in Europa.
Vielleicht ist es schon sehr selbstverständlich, das zu sagen, es fällt uns gar nicht mehr auf, aber ohne die Übersetzer, gerade all der vielen sogenannten kleinen Sprachen, die in Europa gesprochen werden, gäbe es Europa gar nicht. Und vor allem nicht die europäische Literatur, den europäischen Roman. Ich könnte ohne das Übersetzen nicht die Polin Olga Tokarcuk lesen, nicht den Ungarn Krazsnahorkai, nicht den Iren Colm Toibin, den Tschechen Kundera, usw. usf.

Die Künstler haben Europa immer am selbstverständlichsten gelebt. Noch vor aller Wirtschaft, vor aller Politik, haben sie das Gewebe zusammengehalten, für sich in Anspruch genommen.
Der europäische Roman – das ist eine Art Reigen. Ich vermeide das Wort Staffellauf, da es in meiner Vorstellung nicht so sehr ein Sport ist, als vielmehr ein Tanz, was da zwischen Autoren und Übersetzern passiert. Unabhängig von den einzelnen Nationen reden die Autoren über die politischen Grenzen hinweg miteinander und zu den Lesern, und zwar schon seit Jahrhunderten.
Für mich als Künstlerin ist Europa ein ganz altes Gebilde, eine ständige Erfahrung der Grundverschiedenheit, auch der Missverständnisse auf engstem Raum. Und der europäische Roman ist die Schatztruhe dieser Erfahrungen. Wenn ich in sie hineinblicke, erkenne ich, worin der Reichtum dieses Kontinents besteht.
Wir leben von Erinnerungen. Aber doch nie von einer einzigen. Schreiben bedeutet nicht Urteile über Menschen zu fällen, sondern ihre Biografien und Ansichten zu einem Recht kommen zu lassen. Europa hat nie nur von einem einzigen Buch der Erinnerung gelebt.

Ich habe zu Anfang erzählt, was Europa früher für mich bedeutet hat, als Kind. Vorgestern, als ich überlegt habe, was ich hier erzählen könnte, habe ich unsere Tochter gefragt, die gerade sieben geworden ist. Was Europa denn für sie ist, hab ich gefragt. Was ihr als erstes dazu einfällt.
Europa ist ein Land, so hat sie’s gesagt, Europa ist ein Land, in dem sich gut leben lässt.