Gibt es hier eine Pointe?
Man kann eine Geschichte auf vielerlei Weise erzählen. Alles ist eine Frage der Perspektive, des Stils. Je nach historischem Zeitpunkt und Erzählerpersönlichkeit wird die Version ein bisschen anders ausfallen. Bei dem einen wird eine leise Irritation ausgelöst, ein anderer fühlt sich möglicherweise genau richtig angesprochen. Und doch hören alle dieselbe Geschichte.
An der eben geschilderten Szene – die verdutzt in den Himmel blickenden Männer – interessiert mich besonders der Moment danach. Die Männer schütteln sich, wie nach einem Tagtraum. Ein paarmal fahren sie sich mit der Hand übers Gesicht. Die Worte der beiden Gestalten in Weiß haben sie registriert, wenn auch eher flüchtig. Jetzt drehen sie sich um und fragen ein paar Leute, die gerade vorbeigehen: Habt ihr das auch mitbekommen? Und die Leute bleiben stehen und fragen: Mitbekommen? Was denn? Und dann geht es los. Ziemlich aufgeregt, ja beinahe flügelschlagend, beginnen die Männer zu erzählen, was sie soeben erlebt haben. Einer der Passanten sagt: Das habt ihr euch doch bloß ausgedacht, und ein anderer: Psst, ist doch egal, macht schon, erzählt weiter! Und wieder ein anderer: Naja, zuhören kostet ja nix, scheint ganz interessant. Und einer von hinten, der den Anfang verpasst hat: Plausibel klingt aber anders! Und so bildet sich nach und nach ein Kreis, der immer größer wird, und nach ein paar Stunden – die im Nu zu Jahrhunderten werden können – ist die Geschichte von Jesus, der plötzlich zum Himmel aufgefahren ist, immer ausgefeilter und vor allem vielstimmiger geworden. Reicher an Perspektiven.
Alles Erzählen ist Übersetzen. Was wir diffus, chaotisch, stumm erleben und zuweilen erleiden, wird in Sprache verwandelt. Das Ausgeliefertsein an ein Geschehen wird zu einem souveränen Akt, indem man Dinge und Verläufe in einer bestimmten Reihenfolge anordnet. Damit eine Geschichte und mit ihr Bedeutsamkeit entsteht, muss alles – ja: eben – bewusst geschichtet werden. Auch indem wir etwas weglassen. In unserem von News und dauernden Erregungswellen überfluteten Alltag allerdings gerät das immer mehr in Vergessenheit. Statt der Innerlichkeit eines Erzählers, haben wir die Wachsamkeit eines Informationsjägers, schreibt der Philosoph Byung-Chul Han. Wir sind oft nur noch Momentwesen. Die Fähigkeit zur Erzählung, die ein tiefes, mythisches Geschehen nachträglich zu beschwören vermag, ist uns abhandengekommen. Wir leben nicht in einer narrativen, sondern in einer kumulativen Welt. Wir häufen Unmengen von Daten und Informationen an, ein wirrer Wust ohne Zauber und Magie, und die meisten davon sind sinnlos für unser Leben. Dabei vermissen viele Menschen eine Erzählung, im Großen wie im Kleinen. Auch weil sie spüren, dass es eine braucht, wenn man die Welt verändern will. Immer muss da zuerst ein Gedanke sein, eine Vorstellung und dann eine Geschichte, die von einem zum nächsten zu wandern beginnt. Wenn wir die Erzählungsarmut an diesem, unserem Ort der Welt richtig interpretieren, können wir ungefähr ermessen, wie groß unsere Zukunftsverlassenheit derzeit ist.
Fest- und Feiertage wie der heutige sind – so könnte man sagen – Erzählstationen oder noch besser: Lauschgelegenheiten. Lauschen heißt ja nicht bloß Zuhören, es heißt, man ist in spannungsvoller Erwartung. Gleich! Gleich wird man etwas erfahren, wird man etwas vor dem inneren Auge sehen! Wo sich eine Lauschgemeinschaft bildet, entsteht eine Verbundenheit, ein Wir.
Aber das Erzählen verbindet nicht nur die Menschen untereinander. Vor allem gibt es uns die Möglichkeit, Verbindungen wiederherzustellen, wo etwas verschwunden ist. Immer beginnt es dort, wo etwas vorbei ist. Eine Leerstelle, die uns beunruhigt, die uns verrückt macht oder ratlos zurücklässt, wird in eine Erzählung übersetzt und auf diese Weise gefüllt.
Das scheint mir an einem Tag wie heute, dem Himmelfahrtstag, von besonderer Bedeutung zu sein.
Was eben noch da war, greifbar und selbstverständlich, ist plötzlich verschwunden.
In der Bibel heißt es an der Stelle mit dem auffahrenden Jesus: Er wurde vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf und entzog ihn ihren Blicken.
Verschwinden bedeutet nicht, dass etwas nicht mehr existiert. Wenn etwas verschwindet, ist es durchaus noch da, nur nicht mehr in der bekannten Form und auch nicht an der Stelle, wo es vorher gewesen war. Auf einer anderen Ebene, in einer anderen Sphäre geistert es sozusagen noch herum. Auf diese Weise stimuliert es gleichermaßen die Abschiedswehmut wie auch die Zuversicht. Denn wenn etwas verschwunden ist, besteht die Möglichkeit, dass es auch wieder auftaucht. Insgeheim darf man also in Erwartung sein. Und jeder und jede, der oder die erzählt, kann sogar selbst dafür sorgen, dass etwas wiederkehrt.
Wie soll und kann man aber über das Verschwundene sprechen? Vermutlich: indem man davon erzählt, als es noch da war. Der Mensch ist ein Möglichkeitstier. Das einzige Lebewesen, das sich etwas ausmalen kann, wie es so schön im Deutschen heißt. Das sich etwas vorstellen kann und ausspricht, was noch nicht oder nicht mehr ist. Das in mehreren als nur einer einzigen Wirklichkeitsebene lebt. Wir brauchen das. Von dem französischen Dichter Paul Valéry stammt die geheimnisvolle Frage: Was wären wir ohne die Hilfe dessen, was es nicht gibt? Valéry meint damit: Was wären wir ohne die Hilfe all dessen, was nur in der Vorstellung, nur in der Sprache existiert? Sich etwas anderes vorzustellen als die bloße Zeit der Gegenwart, die bloßen Tatsachen, von denen wir umgeben sind, das gelingt nur dem Menschen. Das ist unsere Stärke. Und zugleich der wunde Punkt, der uns in Aufruhr hält.
Eben noch da und plötzlich weg. Das Verschwinden interessiert mich seit jeher. In meinen Büchern hat mich oft die Frage beschäftigt: Wohin geht das Verschwundene, wenn es dem Blick entschwunden ist? Ist etwas tatsächlich verschwunden, nur weil man es nicht mehr sieht?
Vielleicht hat mein geschärfter Sinn für Verflüchtigungsszenarien damit zu tun, dass der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, eines Tages mit ziemlicher Rasanz verschwunden ist. Womit nicht unbedingt zu rechnen gewesen war. Schließlich war alles in meiner Kindheit und Jugend im östlichen Teil Deutschlands darauf gepolt, für immer zu bleiben. Die Stadt, in der ich aufwuchs, war eine künstliche gewesen. Zu Zeiten des Sozialismus hatte man aus dem einstigen Fischerdörfchen eine kleine moderne Stadt gemacht, genauer gesagt eine Garnisonstadt. Für die Militärs und ihre Familien entstanden Häuserblöcke, ein Kino, ein Kulturhaus, Kindergärten und eine Schule. Das Einzige, was in dieser Welt der ausschließlichen Zukunft noch an eine frühere Zeit erinnerte, war – die Kirche. Eine Art verbotener Ort. Zwar standen keine Warnschilder davor, aber sie wurde trotzdem gemieden. Sie war ein Haus der ewig Gestrigen, wie es hieß, ein unnützes Relikt. Sie stand da, im Zentrum des Ortes, verborgen von ein paar Tannen, ohne dass jemand auf die Idee gekommen wäre, sie zu betreten. Vielleicht weil es verlangt wurde, aber auch, weil es selbstverständlich war, nicht hineinzugehen. Wer doch hineinging, wurde vermutlich registriert. Zumindest aber belächelt – für seine Naivität, seine Dreistigkeit, seine überkommenen Ansichten.
Nach der Revolution 1989 wurde die Stadt als militärischer Stützpunkt unbrauchbar. Die meisten Bewohner zogen fort. Der Ort leerte sich und schrumpfte wieder auf seine frühere Dorfgröße zurück. Viele Gebäude wurden aufgegeben oder ganz abgerissen. Bis auf eines übrigens: die Kirche. Sie steht noch immer dort.
Das Städtchen ist nicht das Einzige, was verschwunden ist in meinem Leben, es war nur der Ort, der mich das Verschwinden besonders gut verstehen ließ. Auch wenn plötzlich alles fort war, die Menschen und Häuser, und es dort, wo früher mehrere hundert Familien gelebt hatten, darunter meine, nur noch eine Wiese und darüber den weiten Himmel gab, so war doch gleichzeitig noch alles da. In einem meiner Bücher steht: Auch unsichtbar wartete noch etwas dort. Denn wenn etwas verschwindet, entsteht ein Quadrat in der Landschaft, manchmal ein Kreis. Diese Sätze drückten etwas aus, das ich fühlen konnte. Ich konnte es fühlen, aber ich hätte es nicht beweisen können. Ein Unterschied.
Achronie nennt man diese Art der Sicht auf die Zeiten: Es ist „nicht das gleichgültige Nebeneinander, sondern eher ein Ineinander der Epochen nach dem Modell eines Stativs, eine Flucht sich verjüngender Strukturen“. So steht es bei der Autorin Elisabeth Lenk. „Man kann sie [also die Zeiten] auseinanderziehen wie eine Ziehharmonika, dann ist es sehr weit von einem Ende zum anderen, man kann sie aber auch ineinander stülpen wie die russischen Puppen, dann sind die Wände der Zeiten einander ganz nah.“
In Momenten wie diesen, am heutigen Tag, an Orten wie diesem, in einem Dom, einer Kirche, versichern wir uns dieser Möglichkeit. Das lange Stativ aus Jahrhunderten wird zusammengeschoben, und wir rücken sehr nah heran an eine andere Zeit. Auch die Zahl Vierzig, die Anzahl also der Tage zwischen Osterfest und Himmelfahrt, erinnert uns an diese achronische Zeitauffassung. Unsere sonst übliche Kalender- und Weltbetrachtung gilt nicht mehr. Oft wird diese Zeitspanne – 40 – mit einer Zeit der Prüfung und Vorbereitung in Verbindung gebracht. Bekanntlich zogen die Hebräer vierzig Jahre durch die Wüste, bevor sie das Gelobte Land fanden, die Sintflut währte vierzig Tage, und vierzig Tage lehrte Jesus seine Jünger, ehe er zum Himmel auffuhr. Vielleicht hängt die Zahl ja auch mit den vierzig Wochen der Schwangerschaft zusammen. Dieser Gedanke scheint mir naheliegend, immerhin wären Frauen und wahrscheinlich auch Männer ziemlich überfordert, würden Empfängnis und Geburt von heute auf morgen passieren. Wie dem auch sei, bei dieser Spanne, die heute zu Ende geht, scheint es darum zu gehen, dass etwas nicht von heute auf morgen geschieht, dass sich die Dinge nicht über Nacht entwickeln oder lösen lassen. Wesentliches braucht Langsamkeit und Dauer. Erzähletappen. Das Verschwinden selbst mag schnell gehen, aber die Vorausahnung genau wie der Nachhall in uns dauert oft ein ganzes Leben.
Ich habe Ihnen die untergegangene Welt meiner Herkunft auch deshalb geschildert, weil ich mit dieser Welt im Rücken eines Tages meine allererste Erzählung schrieb. Sie werden es nicht glauben, aber sie hieß und heißt noch immer: ›Himmelfahrt‹. (O ja, ich glaube immer weniger an Zufälle im Leben.) Dass mir ausgerechnet dieses Wort in den Sinn kam, kann im Nachhinein als äußerst merkwürdig gewertet werden. Soweit ich mich erinnere, hat in meiner Kindheit kein Mensch das Wort gebraucht. Aber dann, eines Tages, aus heiterem Himmel, habe ich es selbstbewusst auf ein Blatt Papier geschrieben.
In dieser Geschichte findet die Ich-Erzählerin ihren toten Vater in der Wohnung. Es ist die Wohnung, die sie von früher her kennt, in der sie aufgewachsen ist. Sie geht hin, um Abschied zu nehmen. Das Ganze findet im Hochhaus einer Plattenbausiedlung statt, sozusagen zwischen Himmel und Erde. Es war die Welt meiner Herkunft, von der ich in dieser Erzählung Abschied nahm. Sie war mir inzwischen längst entrückt, und dennoch wirkte sie in mir nach. Obwohl die Gegenstände, Personen, Ansichten, Geräusche, Abläufe und vieles mehr verschwunden waren, war all das immer noch da, auf eine geheime, untergründige Art. Eine merkwürdige Präsenz. Verschwunden und dennoch da. Das war meine Situation. Alles Vertraute, das mir Halt, Orientierung und Unterstützung geboten hatte, alles, was einst zu mir gesprochen hatte, hatte sich verflüchtigt, war aufgeflogen, wie es mir wohl vorgekommen sein muss. „Mein Vater, der Vogel“ – er und mit ihm alles andere entfernte sich von mir. Was sollte werden? Es war eine bange Situation, aber auch eine, in der ich mich schließlich doch zurechtfand.
Heute, am Himmelfahrtstag, geht mir auf, dass es die Erzählung eines Positionswechsels ist. Wo vorher selbstverständliche Nähe ist, ist plötzlich eine Distanz. Das aber meint nicht: endgültiger oder gar tragischer Bruch. Ich sehe eher Blasen vor mir, gewaltige Sphären, die sich voneinander lösen, um fortan in verschiedene Richtungen zu schweben. Das Reden und Befragen und Beraten und Belehren ist zu Ende, nun beginnt eine neue Phase. Jeder wirkt und dient fortan an seinem Platz, auf seine Weise. Beinahe beseelt kehrt die Erzählerin aus der Plattenbauwohnung wieder zurück, in ihre eigene Welt. Man lässt jemanden ziehen, nun kann es weitergehen.
Die Himmelfahrtsgeschichte, heißt es, ist eine Geschichte des Sieges. Aber es ist nicht nur ein Triumph für den, der hinaufgezogen wird. Es ist auch ein Triumph für diejenigen, die um die Präsenz des Hinaufgezogenen wissen, obwohl er ihren Blicken entzogen ist. Und warum? Sie schwärmen aus und erzählen davon.
Obwohl ich es nie begangen habe, habe ich das Himmelfahrtsfest – sagen wir intuitiv – immer als etwas Freundliches, Mildes wahrgenommen. Man ist heiter entrückt – noch so eine schöne Wendung. Eine kurze Pause tritt ein. So wie man vor einer Aufwallung großer Inbrunst immer eine Pause einlegt, und sei es auch nur, um tief Luft zu holen, schreibt die amerikanische Lyrikerin Mary Ruefle. Man holt tief Luft, und dann? Etwas geschieht mit uns. Etwas verändert sich. Es ist noch dieselbe Welt, aber plötzlich bewegen wir uns anders darin, sprechen wir anders, schauen wir in eine andere Richtung … für ein paar Augenblicke treten wir ein in eine Zeit, die anders ist als bloß die gewöhnliche.
Ich wünsche Ihnen allen ein wunderbares Himmelfahrtsfest.