Mitte des Lebens

Essay, erschienen in:” »Mitte des Lebens«, Fotobuch, hrsg. von Frederik Pajunk, Kerber Verlag, 2018

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Die Welt war in Ordnung, nur manchmal leer. Das war kein objektiver Tatbestand. Sie erschien einfach deshalb leer, weil man sie ein bisschen besser kannte als noch vor dreißig oder vierzig Jahren.

Sie hätten gern Wir gesagt. Hätten sie das wirklich? Wie hätte das geklungen?
Es war angenehm, sich in der dritten Person zu sehen. So fiel ihnen das Erzählen leichter. Es war keine Frage von Scham. Wir schämten uns nicht, über uns selbst zu sprechen. Im Gegenteil. Das Reden-über-uns-selbst war Teil unseres Lebens. Manche von uns hatten von Anfang an gelernt, ihren Gefühlen Ausdruck zu verschaffen, andere hatten mehr Zeit gebraucht. Therapien. Dass wir von uns erzählten, hieß aber nicht, dass wir etwas preisgaben. Vielleicht war sogar alles Erzählen nur da, um das Wesentliche zu verschweigen.

Das Leben einfach nur schön zu finden, so wie ganz zu Beginn einmal, fiel uns mittlerweile schwerer. Irgendwann wäre das anders, das wussten wir, in ein paar Jahrzehnten würden die allereinfachsten Dinge wieder ihren Wert bekommen – sehen, gehen, essen, sprechen – Herrlichkeiten für den, der dem Ende ins Auge blickt, aber dieser Zeitpunkt war noch nicht jetzt. Irritiert lachten wir, als ein älterer Kollege sagte: Wenn ich nochmal umziehen will, muss ich es jetzt tun, ich hab nur noch einen Schuss. Wir atmeten erschrocken auf und dachten: Wir sind noch nicht gemeint.

Wir waren immerfort beschäftigt. Und obwohl wir so beschäftigt waren, warteten wir. Warten heißt nicht zwangsläufig Regungslosigkeit, man kann auch warten, während man in Bewegung ist. Das Unterwegssein war nur ein Paravent, der unseren Wunsch verbarg, es möge noch irgendetwas auf uns lauern. Sicher, alles sollte so bleiben, wie es war. Aber konnte das schon alles gewesen sein?
Ein paar Entwürfe lagen bereits hinter uns, das Haus in Schweden war wieder verkauft (der ewig verstopfte Kamin!), die Baugemeinschaft seit Jahren verstritten (individualistische Idioten!), die großen Reisen in Alben geordnet, das Leben auf dem Land (was hatte man dort gewollt?)… Wonach konnte man sich in diesem Abschnitt des Lebens vernünftigerweise sehnen? Was war die eine Sache, die Leidenschaft, der es nachzurennen galt, auch auf die Gefahr hin, sich zu verlieren? Was hieß denn Neuanfang? Dachte man darüber nach, schwang immer die Frage mit, wer oder was einen auffangen konnte. Fast wurde man übermütig: Warum nicht einmal scheitern, wenn es für das Unbedingte war? Seien wir doch nicht so streng, schließlich ist alles gut, wenn es zum eigenen Lebenslauf gehört. Aber diese Sichtweise war vielleicht nur eine Laune des Älterwerdens.

Das Verschweigen war ein Teil von uns geworden. Warum auch sollten wir das Finstere, Unabwendbare zur Sprache bringen? Vielleicht wenn jemand ein Beispiel hätte nennen können, wo das zu etwas Gutem geführt hatte.

Wer hätte gedacht, dass er jemals möglich werden würde: der Blick zurück. Was hatten wir erreicht? So viel! So wenig. Das Wichtigste an unserem bisherigen Weg schien zu sein, dass wir nicht in Abhängigkeiten geraten waren. Selbstverwirklichung, Selbstständigkeit, Selbstbestimmung. Ein bisschen bereuten wir es, dass wir immer der Autonomie den Vorzug vor allen anderen Lebensentwürfen gegeben hatten. In schwachen Stunden befiel uns leiser Zweifel: Ein Leben ohne Abhängigkeiten – wie sollte das gehen, und wenn ja wozu?

In geselliger Runde redeten wir über Flüchtlinge, Sport, eine neue App, Politiker, Essen, Theateraufführungen, Erziehung. Manche redeten nicht nur, sondern mischten aktiv mit. Allerdings konnten wir nicht allzu lange bleiben, da zu Hause noch ein Haufen Arbeit, eine nierenkranke Katze oder ein altersschwacher Hund auf uns warteten. (Wir recherchierten nächtelang wegen der Tiere, sogar der Jahresurlaub wurde verschoben, weil keine Pflege aufzutreiben war.) Und natürlich waren da noch die Kinder.

Die Kinder. Die vielen Jahre ohne Ausgang, als sie noch klein waren, man sich kümmern musste… Plötzlich waren sie im Ausland, piercten sich die Nase zur katholischen Schuluniform, oder freuten sich wenigstens, wenn sie abends alleingelassen wurden, wir räumten für eine sturmfreie Bude das Feld. Noch konnten wir uns gut daran erinnern, wie wir nach Hause gehetzt waren, den Babysitter auszulösen, jetzt konnte es nicht spät genug sein. Lange Zeit hatten wir den Eindruck gehabt, wir selbst müssten ihnen noch das Geheimnis bauen, in dem sie sich vor uns verkriechen könnten. Schon wussten wir nichts mehr von ihnen. Wir genossen die neugewonnene Freiheit und fragten uns, was wir anfangen sollten mit ihr. Noch daran gewöhnt, dass nie Zeit war, für nichts, sah man sich plötzlich einer Stille gegenüber, einem weiten Raum. Musste man sich jetzt also doch ein Hobby suchen?
Als wir das Studium, die Ausbildung beendet hatten, hatten wir nicht geglaubt, nach uns könne noch Großes passieren. Wir hatten halb mitleidig, halb ratlos auf die Generation, die nach uns kam, geschaut. Ahnungslose, die! Dann merkten wir, sie war nicht fade oder angepasst, wie wir gehofft hatten. Es waren einfach junge Leute, auf der Höhe ihrer Zeit…

Unsere Gesichter auf Fotos erstaunten uns. Angesichts des eigenen Porträts ist man immer verwirrt, verzaubert, erstaunt. Am wenigsten im Leben sieht man sich selbst, sogar im Spiegel ist es noch die falsche Perspektive. Wir versuchten uns mit den Augen unserer Kinder zu sehen. Vielleicht wirkten wir ja tatsächlich so alt, wie wir waren? Das Gesicht unserer Jugend ist nicht allmählich verschwunden, sondern mit einem Schlag, dachten wir, über Nacht (in welcher?).
In dem Roman eines amerikanischen Autors lasen wir über den Held namens Lemuel Sears: „Natürlich stand es weder in seiner Macht noch lag es in seiner Absicht, die Gesichter von Fremden zu beurteilen, doch wenn er die Straßen irgendeiner Stadt auf der Welt entlangging, suchte er in den unbekannten Gesichtern die Leuchtkraft.“ Da erkannten wir uns wieder. Wie merkwürdig, dachten wir, dass man manche Dinge erst fotografieren muss, um sie zu sehen.

Manchmal war die Erschöpfung groß. Wir bekamen Lust, die mittleren Jahre zu überspringen. Einfach eine Abkürzung nehmen, wenn das in Bezug auf die Lebenszeit möglich wäre, und die umständliche, lärmige Zeit des ständigen Auftrumpfens auslassen, um sogleich ins Rentnerdasein zu gelangen. Fast beneideten wir die Alten um ihr Leben voller Ruhe in der Seniorenresidenz.
Es gab kein einheitliches Ziel, keine einheitlichen Gegenstände, keine einheitliche Utopie, keine einheitlichen Feinde. Wir hätten gern frühere Epochen um ihren Ernst beneidet, ihre Glut, ihr Glühen. Aber wir wussten, wie albern das war, keine Epoche verdiente es, beneidet zu werden. Nicht mal unsere. Trotzdem fragten wir uns zuweilen: Waren wir zu spät dran 0der zu früh? Manchmal empfanden wir so etwas. Anders als Adorno es postuliert hatte, gab es in unseren Augen durchaus das richtige Leben im falschen. Ja, das richtige Leben war überhaupt nur noch so machbar. Im Allerkleinsten, bei uns selbst, fanden wir hier und da eine Möglichkeit. Die Möglichkeit zu einem bekömmlicheren, heileren, richtigen Leben. Zugleich ahnten wir, dass solche Separatparadiese Inseln der Einsamkeit sind.

So vieles war schon verflogen. Selbst der Groll. Wo früher hitzige Gefechte, Eifersucht, Wut, ja manchmal sogar Hass gewesen waren, sahen wir vieles ein. Als könne man es sich ab einem bestimmten Alter nicht mehr leisten, unausgesetzt ärgerlich zu sein. Inzwischen hatte jeder von uns schon einmal jemanden verraten, und jeder war hintergangen worden. Als hätte ein eigenartiger Punktausgleich stattgefunden, konnten wir uns keiner der Seiten ganz zuschlagen. Wir fragten uns höchstens, ob nicht der Verrat durch die Wiederholung seinen Glanz, seine Dramatik einbüßte.

Würde es uns in Zukunft schlechter gehen? Auf einige von uns warteten Häuser, Hab und Gut. Das Erbe der Vergangenheit. Deshalb waren wir vorsichtig mit vorschnellen Urteilen die Zukunft betreffend. Wir wussten nicht, was genau mit dem Wort „schlechter“ bezeichnet wäre. Schließlich hatte die Welt unserer Kinder schon jetzt nur noch bedingt etwas mit der unseren zu tun. Das Schlechte ihrer Zeit wäre vermutlich immer noch besser als das Schlechte von ganz früher.

Obwohl die meisten von uns ein freundschaftliches Verhältnis zu den Eltern pflegten und ein ebenso gutes zu den Kindern, kam uns erst jetzt, da wir selbst genau in der Mitte waren, schmerzlich zu Bewusstsein, dass es keine Brücke zwischen den Generationen gibt. Es gibt ein bestimmtes Interesse, vielleicht Einfühlung, dachten wir. Manchmal sind es Zufälle, die Ältere und Jüngere zueinander kommen lassen. Doch letztlich bleibt jede Generation mit ihren Erfahrungen, Erlebnissen und deren „Verarbeitung“ allein. Wir wussten, dass die Älteren über die Jüngeren denken: Sie verstehen nichts, sie haben keine Ahnung, nicht die geringste, es ist alles verloren… Aber wir wussten plötzlich nicht mehr, ob wir in dieser Vorstellung die Sprechenden oder die Angesprochenen waren.

Last night I dreamt that somebody loves me… Wie ist das möglich, wir hörten noch immer dieselben Songs? Wir hörten sie wieder. Dieselben Ohren, dieselben Songs, dasselbe Herz. Es war also immer noch „Jetzt“. Wir sahen uns an denselben Punkt zurückgebracht, und doch war inzwischen etwas passiert, das sich Leben nannte. Von dieser Kreisbewegung wurde uns leicht schwindlig.
Es war alles eine Frage der Kraft. Wir waren unsere eigenen Motivationstrainer. Man muss den Kopf lange genug oben halten, ein ganzer Tag mit hochgerecktem Kopf: ein guter Tag. Wir fühlten uns noch stark. In sportlicher Hinsicht waren wir immer noch für Überraschungen gut. Lähmung, Angst und Zweifel gehörten in die sehr frühen Morgenstunden. Wir waren froh, wenn es endlich Zeit war aufzustehen, Brote mussten geschmiert, Kaffee gekocht, Pläne für den Tag abgestimmt werden.

Vielleicht fehlten uns nur die Formen, die Orte, die Umgebung, um einmal richtig über alles zu sprechen. Doch wie war das zu schaffen, zwischen zwei Tassen Espresso, dem dauerkranken Hund, in der Mittagspause im Beisein der Kollegen? Und wo wäre der Ort? Obwohl wir in einer Gesellschaft lebten, die die Transparenz auf ganzer Linie zum positiven Leitbild erhoben hatte, schleppte ein jeder sein wirkliches Geheimnis mit sich herum, von Wortpanzern geschützt. Wenn jemand anrief und uns beim Weinen erwischte, erklärten wir unsere belegte Stimme mit einem Schnupfen, sommers wie winters.

Wir waren nicht vorbereitet auf den Tod. Auch nicht auf den der Eltern. Wir wollten es nicht sein. Wir hatten Angst. Außerdem: Was hieß denn Vorbereitung in so einem Fall? Wir sagten, darüber rede ich nicht mit euch, bevor ihr 70 seid! Dann geschah alles plötzlich. Jetzt beneideten wir diejenigen unter uns, die Rituale für den Tod hatten. Es waren sehr wenige. Totenwache zu halten, kam uns in den Sinn, Langgelerntes, Riten, Gewohnheiten. Wir hätten unsere Eltern nach ihrem Tod gern auf Reisen geschickt, ihre Asche ins Mittelmeer gestreut, anonyme Bestattungen auf See, in einem Wald… Aber meistens regelten wir die Angelegenheiten pragmatisch. Ein Vorwurf an uns selbst, der blieb. Dass sogar der Tod ein Geldgeschäft war, stieß uns in diesem Moment besonders bitter auf. Eine Bitterkeit mehr. Aber an solche Widersprüche waren wir gewöhnt. Sie waren nicht gut, aber wir lebten unser ganzes Leben schon so.

Wir waren auf eine nahende Katastrophe gefasst. Immer lag etwas in der Luft. Man empfand sich beständig wie kurz vorm Wegbrechen. Umwelt, Atom, Krieg, Terror, Ressourcen. Die Welt als Ganzes würde bald nicht mehr existieren, der Mensch als Gattung schaffte sich selbst ab! Aber die Drohungen verfingen nicht. Gelegentlich machten wir uns Vorwürfe deswegen, schämten uns. Nicht mal um der Kinder willen gelang es, sein Leben zu ändern? Wir übten Konsumkritik, während wir konsumierten und haderten mit dem Fortschritt, während wir an nichts anderes glaubten als an das Moderne. In Kabarettsendungen lachten wir ein paar Sekunden lang über solche Unvereinbarkeiten. Dass die Welt komplex ist, erfüllte uns mit einer gewissen Erleichterung. Die Dinge waren nicht einfach so zu lösen, ergo verfing auch kein einfaches Engagement.

Manchmal redeten wir doch. Mit uns selbst, auf dem nächtlichen Balkon, unter Bettdecken, in leeren Regionalzügen. Der innere Monolog war unsere bevorzugte Sprechart geworden. Das beständige, gleichförmige Gemurmel in uns selbst. Die Absprachen, Abmachungen, Aufmunterungs- und Trostreden an uns selbst.

Einmal sagte jemand zu uns: Du hast so lange für den Abschied von deinem alten Leben gebraucht! Wir blickten konsterniert zurück. Als könne man das, Abschied nehmen von der eigenen Vergangenheit, endgültig und für immer, und sich selbst loswerden irgendwann.

Irgendwann hörten wir auf, uns mit uns selbst zu beschäftigen, uns etwas vorzumachen, es gab so viel zu sehen, zu tun.
Wir hörten auf zu reden wie im Traum.
Eines Morgens traten wir vor die Tür.
Wir waren nicht tot, wir waren nicht verrückt geworden. Das Unheil existierte nicht, kein Fluch lastete auf unseren Schultern, wir waren nicht einmal krank. Weder unsere Tage noch unsere Nächte waren in Gefahr. Unser Herz schlug. Wir waren nicht die Hauptperson. Wir suchten die Gegenüberstellung. Wir wollten wieder absichtslos sein, Hintergedanken vermeiden. Wir folgten dem Rat des Dichters und pfiffen auf das Schicksalsdrama, missachteten das Unglück, zerlachten den Konflikt. Die Zeit, die die Lösung kennt, ist weitergegangen, alles begann neu, alles konnte weitergehen.

Wir sind noch da.