Brandenburg liegt am Pazifik

Über das Verschwinden der eigenen Vergangenheit, über Potsdam im Umbruch und das Leben in Ewigkeit

Erzählung, erschienen in: »Hier soll Preußen schön sein«, 2019
»Berliner Zeitung«, 30. Dezember 2015

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Als Kind saß ich abends oft am Fenster meines Zimmers, im 5. Stock eines Wohnturms in einer Potsdamer Plattenbausiedlung am Rande der Stadt, und sah hinunter zu den Straßenbahnen. Im Dunkeln war dieser Anblick besonders schön. Die beleuchteten Waggons fuhren Richtung Zukunft, kam es mir vor. Für mich war die Welt, in der ich da saß, damals in der achtziger Jahren, eine Welt des ausschließlichen Fortschritts. Die Vergangenheit war dazu da, überwunden zu werden. Tatsächlich trugen die Häuser, in denen ich bis zum Erwachsenenalter gewohnt habe, nie Spuren irgendeiner, womöglich von Ahnen geprägten Geschichte. Immer waren die Wohnblöcke gerade erst errichtet worden und so frisch, dass beim Einzug jedes Mal noch der Beton zu riechen war.

Später löste sich diese Art kindliche Schwärmerei auf, sozusagen über Nacht. Ich verstand, dass die Tatsache, keine Vergangenheit zu haben, eine bestimmte Form der Melancholie bewirkt. Ich wurde neidisch. Auf jeden, der einen Ort hatte, an dem die Zeit abzulesen war. Mit dem Zeug von Jahrhunderten vollgestopfte Dachstühle, verwilderte Gärten, ausgetretene Dielen, bröckelnde Balkons – all das sagt mir immer noch sehr zu. Ich glaube, ich hege die Hoffnung, dass die Menschen von der Geschichte eines solchen Ortes mit beschwert werden. Dass ihnen also ein Gewicht verliehen wird.

Eigentlich könnte ich froh sein. In meiner Heimatstadt widmet man sich inzwischen wieder intensiv der Vergangenheit. Ich darf zurücktauchen. Aber wohin genau? Offenbar gilt die Regel: Damit etwas stattgefunden haben darf, muss ihm etwas Royales anhaften. Unaufhörlich und beinahe schon wie unter Zwang verwandelt sich die Stadt in ihr eigenes historisches Kulissenbild zurück, eine Residenzkulisse. Wir sind nur zu Gast auf Erden, das ist hinlänglich bekannt. Manchmal beginnt dieses Gefühl allerdings gleich vor der eigenen Haustür.

In München treffe ich jemanden, der in den fünfziger Jahren bei mir um die Ecke aufgewachsen ist, in der Breiten Straße, die zu meiner Zeit (ja: zu meiner Zeit!) noch Wilhelm-Külz-Straße hieß. Beim Abschied ruft er mir nach: Und grüßen Sie mir mein Potsdam! Beim Anblick des neugebauten Stadtschlosses denke ich, seltsam, daß ich inzwischen tatsächlich wieder das ehemalige Potsdam dieses alten Münchners grüßen kann und dafür meins verschwindet…

Diesmal, in meinem Fall, verschwindet all das, was vor sagen wir vier oder fünf Jahrzehnten noch als fortschrittlich, als zukunftsweisend in der Stadt galt. Die Nachkriegsmoderne, offenbar nur ein architektonisches Intermezzo, wird ausradiert, damit an die Stelle die Phantome einer Märchenarchitektur wiederauferstehen können. Schlösser, Kirchen, Kanäle…

Es heißt, die einzigen Dinge, die im Leben von Bedeutung sind, sind die Dinge, an die man sich erinnert. Das scheint erst recht dort von Bedeutung zu sein, wo es die Beweise einer Vergangenheit gar nicht mehr gibt. Ich habe kaum mehr Beweise für meine Vergangenheit. Was ich zeigen kann, sind oft nur noch Ruinen. Die Ruinen der einstigen Zukunft.

Meinen Kindern erzähle ich von den Orten meiner Vergangenheit anhand alter Postkarten. Daran ist nichts Schlimmes. Zumal diese virtuellen Ausflüge immer etwas Belustigendes haben, jedenfalls für sie.
Ich selbst wiederum sehe mir die Postkarten vom ehemaligen Urlauberheim „Pierre Semard“, am Ufer des Schwielowsees, weniger belustigt an. Als ich in den neunziger Jahren meinen Mann kennenlernte, der dort wohnte, wurde das Heim gerade abgerissen. Ein Investor hatte an der Stelle Großes vor. Auf einem Schild stand: Hier entsteht das Starnberg des Ostens. Natürlich wollte jeder in Starnberg Urlaub machen, aber nicht in dem des Ostens. Der Investor ging pleite. Übriggeblieben ist eine schlichte, weiße Häuserzeile. Dieses typische Verputzweiß, das nach ein paar Jahren märkischen Klimas eine dunkel-schmutzige Färbung annimmt. In dem Allerweltsneubau hat eine chemische Reinigung genauso Platz wie ein China-Restaurant. Es gab sogar mal eine Bar darin. Allerdings gingen die Ureinwohner, wenn sie ein Bier trinken wollten, nicht in die Bar in der neuen weißen Häuserzeile, sondern eine Ecke weiter in ihre Stammkneipe. Die hatte noch ein paar Jahre, bevor auch hier der Abriss kam.

Ich erinnere mich, am Kleinen Lienewitzsee (gleich hinterm Schwielowsee) für das Große Latinum gelernt zu haben (oder war es umgekehrt?), allerdings mehr aus romantischen Gründen. Meistens saß ich an einem Bootsverleih in der Nähe, eine Bude und zwei drei Tische davor, an denen Bier getrunken wurde. Das Ensemble wurde von den Einheimischen ironisch Yachthafen genannt. Inzwischen gibt es dort tatsächlich Yachten. Die neuen Anwohner nennen den Ort Marina. Ganz ohne Ironie.

Am gegenüberliegenden Ufer wird die Landschaft seit ein paar Jahren von einem Hotel-Resort zerteilt, dessen lauschig am Ufer gelegenes Freiluftrestaurant „Ernesto“ heißt, Spezialisierung auf Zigarren und Rum. Dahinter zwischen limettengrünen Wiesen eine grundlos gewundene Teerstraße, auf der man im Verkehrsgartentempo zu einer Golfplatzanlage gelangt…

Das Einheimische verblasst. Die Orte werden ortlos. Wo alles Fassade wird, fühlt man sich naturgemäß eher als Besucher anstatt beheimatet. Vielleicht denke ich deshalb oft, sobald ich irgendwo in der märkischen Landschaft herumliege: So muss der letzte Tag im Frieden sein.
Andererseits: Durch all diese Vorgänge des Verschwindens bin ich zur alleinigen Verwalterin des Rechts meiner Vergangenheit geworden. Ich bin gezwungen, die Verbindung zu dem, was war, immer wieder neu zu finden. Zu erfinden.

In ihrem ersten Roman „Heiße Küste“ erzählt die im heutigen Vietnam geborene französische Schriftstellerin Marguerite Duras vom Kampf ihrer Mutter gegen den Pazifischen Ozean, der beständig den Familienbesitz zu überschwemmen droht. Amerikanische Literaturwissenschaftler haben herausgefunden, dass die Familie zu keinem Zeitpunkt am Pazifik gewohnt hat. Sie wohnte hunderte Kilometer entfernt, am Chinesischen Meer, wo ihre Ländereien nie überschwemmungsgefährdet waren.

Tatsächlich ist die Zeit der Literatur nicht die Gegenwart, sondern die Ewigkeit. Ein Umstand, der mich als Schriftstellerin glücklich machen muss. Was macht es schon, wenn so vieles verschwindet, das die reale Vergangenheit meines Lebens ausgemacht hat.
Wer in der Schwerelosigkeit der Gegenwart aufwächst, weiß, dass nur die Imagination die Fäden zurück zur Vergangenheit spinnen kann. Nicht geschichtliche Exaktheit, sondern die Phantasie hält die Räume zusammen.

Sagen wir also, mein Brandenburg liegt am Pazifik.