Die wattierte Wirklichkeit und ihre Literatur

»EDIT/Herbst 2003«

Ich will keine Bücher mehr lesen, in denen sich nicht in irgendeiner Weise der Wirklichkeit der Gegenwart widersetzt wird. Ob absichtsvoll oder ganz hektisch, durch Liebesplan, einfaches Nichts-Tun oder Entzug, unerwartete Güte, vorsätzliches Vergehen oder vielleicht sogar Angriffsspiel. Keine Bücher mehr, in denen nicht einmal in Erwägung gezogen wird, etwas zu wollen, was die Realität nicht vorschreibt, in denen Anmaßung nicht vorkommt oder der Kleinstversuch einer Sabotage. Als Figur, als Idee, als Sprache, als Perspektive vielleicht. Genug mit den Abbildungen eines gepolsterten Alltags, den Abschilderungen, die nur wiedergeben, ohne das Gesehene zu kneten und zu treten, genug mit den Zumutungen des Realen. Zumutung auch und vor allem, wenn dieses Reale nur als Individuelles daherkommt. Das Individuum mit seinen persönlichen Geschichten langweilt in der Literatur, wenn es nicht als ein Modell, ein Vertreter oder Gesetz gelten kann. Wofür? Zum Beispiel einer Haltung, die es gegenüber der Umgebung einnimmt. Ich will wieder Äußerungen, nicht Erforschungen des Inneren.

In der deutschen Literatur läßt sich derzeit eine solche Tendenz zum Erzählen des Persönlichen feststellen. Die vielen Einzelgeschichten beziehen ihr Recht vermutlich aus der ganz selbstverständlich gewordenen Individualismus-Pflicht, wobei das Persönliche nie eine eigene Position zu meinen braucht. Es ist einfach schon dadurch gerechtfertigt, daß es da ist. Dabei wird das Einzelne aber kaum auf der Folie dieser Ideologie beschrieben und als ihr Produkt dargestellt, sondern die Bestandteile unserer Wirklichkeit werden einfach als Bestandteile der einzelnen Geschichte verwendet und hingenommen, ohne daß gezeigt würde, wie sich diese Bestandteile auf das Verhalten und die Verfassung der Figurenmenschen auswirken. Dadurch werden dies ganz sorglos unhistorische Texte. Und natürlich können auch die Äußerungen, stumme oder verbale, der Figuren und ihre Handlungen dann nur als individualistisch gedeutet werden, das heißt sie stehen im Grunde in keinem Zusammenhang mit der sie umgebenden Welt, die höchstens noch da ist, um alles plastischer und anschaulicher zu machen. Das Ergebnis dieser Ausschmückung ist dann jedes Mal eine Verkleisterung des Blicks auf die Gründe, warum die geschilderten Handlungen überhaupt so und so geschehen müssen. Die Umgebungswelt ist in diesen Texten so selbstverständlich vorhanden, daß sie gar nicht mehr als prägend wahrgenommen wird. Anstatt daß das Handeln (oder Nicht-Handeln) der Figuren als Ausdruck dieser Welt erkennbar wird, findet es einfach nur in ihr statt, als wäre sie ein Rahmen oder beliebiger Hintergrund. Die Wattiertheit der Gegenwart scheint so natürlich, daß sie sich als direkte Entsprechung in der Literatur dieser Zeit wiederfinden muß; manch einer liegt so tief im Wattebausch, daß er gar nicht mehr herausschauen kann aus dem sanften Umgebungsflaum. Anstatt mit einem vernünftigen Befremden dieser Realität gegenüberzutreten, werden deren Gesetze angenommen. So ist es beinahe egal, ob man den Kopf ins Buch hält oder aufschaut in Fernsehbilder und Einkaufsstraßen. Man sieht dann nur, ohne daß das eigene Auge geschärft oder verletzt und dadurch die Sinne bewußter und gereizter würden. Als Abbild und Resultat ihrer Zeit sind diese Texte durchaus verständlich. Aber sollte nicht auch umgekehrt Literatur sich gegen ihre Zeit wehren und sie so letztlich formen können? Indem sie zum Beispiel Widerstände gegen unsere Wünsche und Gedanken einbaut, die gar nicht aus uns entstanden sind, sondern nur durch uns hindurchbefohlen werden? Die agitatorischen Worthülsen der 68er Zeit waren noch leicht als politisch-ideologisch zu entlarven, für die Gegenwart ist dies schon schwieriger, weil sich deren Ideologie gerade auf die individualistische Unverbindlichkeit stützt. Mit dem Absehen von gesellschaftlichen Zusammenhängen ist diese Gesinnung genau aufgegangen, und jegliches Sprechen bleibt automatisch klein, weil immer nur vereinzelt und für sich geschehend.

Wenn man nun beschreiben will, daß man mit dieser Welt nicht wie selbstverständlich konform ist, dürfte man eben nicht einfach aus ihr heraus eine persönliche Geschichte erzählen, sondern müßte vielmehr darüber sprechen, was die Welt mit einem und anderen macht. Das Knirschen zwischen allem, eher ein Dazwischen, anstatt ein Darinnen. Dies kann nur durch Abwesenheit von Psychologie möglich werden. Psychologie als ästhetische Strategie ist ja Ausdruck eines individualistisch/ eigenbrötlerischen Denkprinzips, das von fest umgrenzten Persönlichkeiten mit ureigensten Geschichten ausgeht. Sie ist in der Literatur oft das Unehrliche, das Unaufrichtige, da man die innere Beschaffenheit einer Figur bemüht, um Dinge zu erklären. Nichts aber ist willkürlicher und dramaturgisch zufälliger, da angelegt und ausgedacht. Wer es nicht schafft, das Verhalten der Figuren aus dem zu erklären, was sie in einer bestimmten Zeit erleben, hören, schmecken, sehen, lesen, erfahren und befühlen müssen, hat nichts erreicht. So könnte, um ein Beispiel zu nennen, eher als die konkreten Erscheinungen von Liebe und die damit verbundenen Probleme vielmehr die Frage interessieren, warum denn die Liebe genau zu diesem Zeitpunkt nur noch so und so auftreten oder mißlingen muß. Die Antwort wäre dann schon ein Erzählen, das die Realität so anordnet, daß aus dieser Anordnung etwas bewußt wird. Die Figuren würden sich in einem Raum oder einer Zeit bewegen, aus dem oder der heraus alle ihre Handlungen, Blicke , Rufe, Tätigkeiten oder Un-Tätigkeiten, Bewegungen begreifbar werden. Was bleibt übrig, vom Leben, der Liebe, unabhängig von der Vergangenheit jedes Einzelnen, wenn sich die Existenz in einem Raum, dieser Gegenwart (die für bestimmte Bereiche – meinetwegen den Liebesbereich – als gefährdend gelten kann) abspielt? Wenn die großen Entwürfe überführt werden müssen in einen winzigen Rahmen, wenn sich die Zukunftswände zusammenschieben links und rechts und man froh sein muß über den nächsten Kubikmeter Raum, in dem sich noch denken läßt?

An die Stelle von Introspektion werden in diesem Zusammenhang Gesten und Bewegungen zwischen den Figuren treten. Das Gestische ist jedoch nicht einfach die äußere Sichtbarkeit einer Innerlichkeit, die nur verschlüsselt wäre und vom Leser dann sozusagen erraten werden muß. Es gibt keine Logik des dahinter, sondern nur einen einzigen und letzten Ausdruck. Dieser ist sicherlich keine alogische, irrationale Form des Agierens, vielmehr handeln so Subjekte in (paralysierender) Freiheit, die ihre Umgebung durchaus begreifen, ja bereits verstanden haben, jedoch sehen, daß dieses Verstehen sie nicht vor dem Zugriff der Welt bewahrt.

In dem Film „Bungalow“ von Ulrich Köhler stürzt sich der Hauptheld plötzlich stumm und scheinbar ohne Grund auf seinen Freund, der die ganze Zeit schweigend und ruhig auf einer Gartenklappliege am Rande eines Schwimmbeckens gelegen hat. Er muß es tun, weil diese (vitale statt rationale) Äußerung seine einzige Möglichkeit ist, überhaupt etwas zu sagen über einen Zustand der Gegenwart, der ihm objektiv gesehen keinen Anlaß zu Reden und Widerreden bietet. Diese Unmöglichkeit, in der dauernden Vereinnahmung durch Abwiegelung auf Widerstände zu stoßen! Der Freund wehrt sich nicht, sondern geht ab. Statt Logik bleibt eine archaische Suchgeste nach einem Lebenssinn. Ein Bedürfnisrest, für den es keinen Inhalt gibt. Nur ahnungslos-tumbe Kritiker konnten diesen klaren Film über einen jungen Mann, der tatenlos seine Tage in einer Laube zubringt, als eine Gammlerkomödie mißverstehen, so als wäre das Problem ein zu enger, den Einzelnen vereinnahmender Gesellschaftsrahmen, aus dem man auszusteigen versucht! Vielmehr zeigt er doch die Ahnung von einer widerstandslosen Weichheit der Welt: Nie hat es eine ziel- und auftragslosere Zeit gegeben als unsere jetzige. Der Held ist schon das Ergebnis dieser Wahrheit, die sich nur noch in episodischen Minimalhandlungen darstellen läßt, bei denen die eruptiven Ausbrüche die phlegmatischen Phasen immer wieder ablösen. Totalverweigerung durch Null-Engagement. Aber anstatt dies in einer psychologischen Fallstudie als krankhaft/ individualistisch zu verharmlosen (Was hat denn dieses Individuum für ein Problem?!) werden Motivation und Logik ersetzt durch das Resultat der Gewißheit: gestischer Rest. Da zudem eine vordergründige Geschichte fehlt, müssen die verschiedenen Figuren schließlich als Auswüchse unserer Zeit sichtbar werden. Décrire la vie moderne, c’est observer les mutations. (Jean-Luc Godard)

Eine ähnliche Beobachtung läßt sich beim Lesen des jüngsten Romans „Faire l’amour“ von Jean-Philippe Toussaint machen. Obwohl ausgehend von einem ganz privaten Konflikt – ein Paar trennt sich – erzählt der Autor gerade nicht die individuelle Geschichte dieses Paars (das Aufhören der Liebe, Sprachlosigkeit, Unverständnis usw. usf. ). Er verzichtet auf eine ablenkende Innenschau, auf jene Dinge, die nicht einen Kern beträfen, sondern nur das Füllmaterial, über das jeder Mensch in beliebigen Mengen verfügt. An ihre Stelle tritt die genaue Beschreibung der äußeren Beziehungen zwischen den Figuren, die tatsächliche Ablösung voneinander, die sich über Stunden hin in einem frostigen Tokio vollzieht. Die Stadtlandschaft ist hier aber nicht Dekor, sondern Mitspieler und auch Auslöser für das Denken und Agieren der Figuren. Das Reagieren auf die Welt, das In-sie-gestellt-Sein wird so zur zentralen erzählten Erfahrung. Während sich der Mann nachts in einem Schwimmbad in der obersten Etage eines Hochhauses aufhält, blickt die Frau von unten an diesem Hochhaus hinauf, sieht schemenhaft sich jemanden im obersten Stock bewegen… In einer Ausstellung beobachtet der Mann auf mehreren Monitoren, wie sich die Frau langsam im leeren Nachbarsaal umsieht, der direkte Kontakt gilt nicht mehr… Der Mensch als ein raumlösliches Wesen: nicht Substanz, sondern Relation, nicht Essentielles, sondern Akzidentielles und Situation. (Dies berührt natürlich die Frage, wie ein Roman – diese ästhetische Form der Zuversicht – sein kann, wenn Statik statt Entwicklung den historischen Moment ausmacht). Diese Art Beziehungen also sind es, diese Blicke und Räume, die stärker als die bloße Realität das Denken des Autors darstellen, arrangiert zu künstlichen Zeichen, destilliert aus der Wirklichkeit. Das Handwerklich Solide, wenn es diesen Gedanken, diese Zeichen als wesentlich für unser Leben nicht herauszuarbeiten schafft, kann nur uninteressant sein.

Es läßt sich allerdings feststellen, daß trotz Kafka & Co ein urförmiges Figuren-Verhalten, das Aufzeigen der äußeren Beziehungen zwischen ihnen, ob im Film oder in der Literatur, immer noch sehr oft als „rätselhaft“ und nicht als positiv verstörend gewertet wird. Unsere Gegenwart kennt nur das Bedürfnis nach Lösung (und dies nicht mal als Lösung eines Rätsels, sondern nur eines Problems). Anstatt mit dem Ruf nach Intrige und Handlung über das simulierte Oberflächenkreiseln hinwegzutäuschen, sollte es heißen: Serviert werden nur Lösungen, für diese Welt aber brauche ich Rätsel. Und Rätsel meint ja nicht unverständlicher oder unklarer Text, sondern ein nicht weiter angreifbarer und aufspaltbarer Kern des Weltfunktionierens, der von den wabernden äußeren Geschichten zu abstrahieren und als ein Gesetz, eine Situation zu beschreiben ist. Manchmal ist er logisch zu formulieren, meistens jedoch nur als Entwurf oder Projekt erspürbar. Die Freischälung eines solchen Kerns macht die Handlungsweisen der Figuren deutlich, im besten Falle als Modelle des Verhaltens, als Modelle des In-der-Welt-Seins.

Das Bekannte und das als natürlich Wahrgenommene ist dann so zu arrangieren, daß es als ein solcher Kern gelesen werden kann. Denn auch eine sogenannte „Welthaltigkeit“ entsteht eben nicht einfach dadurch, wie eine normative Kritik es noch immer lächerlicherweise einfordert, daß man möglichst viele historische oder aktuelle Ereignisse und Themen abschreibt für die Literatur (Vertreibung im Zweiten Weltkrieg, die Börse, die Wende, der Luftkrieg usw. usf.). So würden Schriftsteller nichts weiter als Populärhistoriker. Eher schon ergibt sie sich aus einer Haltung zu dieser Welt/ Wirklichkeit, die, das zeigt zum Beispiel Michel Houellebecqs Kurzroman „Ausweitung der Kampfzone“, auch als Kleinstausschnitt dargestellt sein kann. Historische Ereignisse selbst sind in jedem anderen Medium genauer nachzuvollziehen, Literatur aber kann mit der Sprache der Autorenpersönlichkeit (die eben nicht ein Medium nur der äußeren Sprachen ist) gerade das Nicht-Sichtbare sichtbar machen, indem sie einzelne Strukturen aus dem Dickicht der Wirklichkeit begreift und so zusammenstellt, daß aus ihnen ein Zeichen, eine Idee über diese entsteht. Die Differenz zwischen Schreiber und Realität, das heißt also der Spalt zwischen der uns umgebenden Wirklichkeit und dem subjektiven Ausdruck muß geweitet werden. In diesem Spalt hockt der Autor und arbeitet von innen an seiner Vergrößerung.

Um die Zumutungen des Realen zu beschreiben, ohne Anti-Helden zu entwerfen, habe ich – zumindest derzeit – die Strategie des Paars für mich gefunden. (Nebenbei sei bemerkt, daß es 1. nicht möglich ist, die Merkmale des männlichen Anti-Helden ganz simpel auf einen weiblichen zu übertragen, was noch ein anderer Aufsatz wäre, und ich 2., wenn es denn möglich gewesen wäre, auf diese Übertragung – Heroismus der einsamen Souveränität – im Grunde auch gar keine Lust hatte). Dieses Prinzip „Zwei statt des Einzelnen“ hat wenig mit romantischen Gründen zu tun, obwohl dies nicht das schlechteste Argument wäre. Vielmehr ließ sich über eine (geglückte) Symbiose eine Strategie finden, mit der dem jämmerlichen Individualismusgedanken und damit der gegenwärtigen Ideologie etwas entgegenzuhalten ist. Die Symbiose ist damit nicht Ziel, sondern undiskutierte Ausgangssituation des Erzählens, seine Voraussetzung. Anstatt also eine problematische Haltung zur Welt nur als läppische, privatistische Beziehungsidiotie zu gestalten, kann das Paar – die kleinste Handlungseinheit – sich als letzte elitäre Minderheit, als würfliger Stein aufsässig in den Vereinzelungsbrei dieser Zeit hineinwerfen. Um nun die Reibung zwischen Mensch und Welt aufzuzeigen, müssen die Reibereien des Partnerschaftlichen, die oft nur über die lebensweltliche Unfähigkeit des Autors sprechen, verlagert werden auf die Dichotomie Paar und Welt. Denn das innere Gerangel im Paar stört ja beim Blick auf letztere. Der Einzelne kann mit seinem subjektiven Leiden und den Pseudo-Konflikten, die er sich auch noch von der Gesellschaft vorschreiben läßt (!), nur verdächtig erscheinen, weil sein Problem, das zwar häufig als ein gesellschaftliches behauptet wird, oft schnell verschwände, wenn er nur ganz simpel „einen Zweiten“ träfe. Und mit Sloterdijk weiß man, daß das, was sich für das Individuum hält, bei Lichte besehen sowieso nur der trotzige Rest einer gescheiterten Paarstruktur ist. Erbärmlich an dieser Art Einfühlliteratur ist zuletzt auch, daß sie über den Leser, der sich in den Texten wiederfinden kann, einen Status-quo sichert, anstatt ihn in einen noch unbekannten Raum hineinzustoßen. Genau deshalb – und dies hat nichts mehr mit Paaren zu tun – kommen diese Texte oft auch so uninteressant daher, weil es kein Wagnis, keine Vision, kein Projekt in ihnen gibt. Nur Wirkliches. Bevor man überhaupt nur in die Nähe eines Entwurfs kommt, steigen die Figuren ja sämtlich schon aus. An Stelle dramatisch Ertrinkender oder sensationell Schwimmender werden nur unentschlossen am Strand Hockende gezeigt! Den Luxus dieser Willenlosigkeit ermöglicht der Blick auf eine selbstverständlich gewordene Umgebung. Manchmal mit den Füßen im Wasser stehend, lassen die Figuren sich von der Zeit treiben, indem sie von ihr Vorschriften entgegennehmen, was möglich und unmöglich ist. Sie nehmen ihre Gesetze an, anstatt ihnen zu begegnen! Unmöglichkeiten werden behauptet, anstatt ausprobiert. Und diejenigen, die von Unmöglichkeit sprechen, sind ja gleichzeitig auch immer Vertreter des „Natürlichen“ und „Wirklichen“, des „natürlichen Laufs der Dinge“, ohne je an das Mögliche zu denken, das doch immer erst das Gewollte ist. Ohne auch nur im Geringsten eine Absicht oder den Versuch einer Unbedingtheit zu vermitteln, diese scheinbaren „Gesetze“ aufzuheben! Diese Versuche müssen ja nicht gelingen, aber von dem Scheitern wenigstens sollte die Literatur schon sprechen. Und wirklich scheitern kann nur, wer sich wirklich hineinwagt.

Wird das Inszenieren wichtiger, entgeht man ästhetisch gesehen auch einem einfachen Abschildern dessen, was ist, einem trivialen Realismus – selbst bei poetischer Anreicherung. Modell statt Abbildung. Dies wäre schon wieder eine schöne Arbeit: sich herausgraben aus einer Umgebung von Einzelgeschichten, die den gesellschaftlichen Raum nur als Operettendekor benutzen. Gegen die amöbenhaften Individuen, die durch die Literatur treiben, könnte so eine Kontur entstehen, die das Auftreten einer Figur hinterläßt. Ein Entwurf, hineingedrückt in die Schmusedecke der Gegenwart. Dem Unentschlossenen, Flüchtigen, Weichen, sich Entziehenden, dem Flexiblen, dem Überall-Sein, dem Mobilen tritt dann das Träge, Feste, Umrissene, Starre, Gewollte und Nicht-Natürliche entgegen. Dies alles ist nur durch einen Plan zur Wirklichkeit, einer Absicht zu haben. Zum Beispiel als Figuren-Plan zur Sabotage: Aktives Heraushalten, Liebes-Plan, Gewalt-Plan oder auch Verweigerung durch Null-Aktionismus wie, noch einmal, Jean-Philippe Toussaints namenloser Held, der seine Tage in einer leeren Badewanne zubringt, ungetröstet und Pascal lesend, eine schon anarchische Haltung, weil sie bewußt gewählt wird. Denn die kleinstmögliche Sabotage besteht bereits darin, nicht „naturgemäß“ zu handeln und zu denken, das heißt den gesellschaftlichen Denkmechanismen nicht fraglos zu folgen. Damit kann Inszenierung zu einer direkten Antwort werden auf eine wirklichkeits- und pragmatismusfanatische Zeit (auf der Ebene des Schreibens und auch der der Figuren), wobei das Geschlagensein durch die Zeit in einen Diskurs des Gewollten, also gleichzeitig Unrealistischen verwandelt wird. Der Ziellosigkeit der Gegenwart wenigstens ein Ziel der Figur entgegenstellen!

Doch statt dessen: viel Hinnehmen und Einrichten in der Welt, woraus unweigerlich fade Textprodukte entstehen müssen, weil in ihnen die Wirklichkeit nur hingenommen wird, wie auch die Sprache nur hinnimmt, anstatt für sich in Anspruch zu nehmen. Es ist klar, daß sich aus einer Haltung zur Welt auch eine Haltung zum Formalen, zum Stil ergibt, ganz einfach ergeben muß. Das Heftige, Unerwartete, Widersetzliche ist vielleicht nicht zuerst eine Frage der Form, aber es läuft unweigerlich auf sie hinaus. Doch solange ein Befremden ausbleibt und ein dumpfes Arrangement mit der Welt (auch wenn man in ihr betrüblich oder ratlos scheint) besteht, wird natürlich auch die Sprache dieser Welt einfach nur benützt werden. Stil kommt dann höchstens noch vor als gewollte schöne Einzelmetapher und nicht als Gesamtablauf oder Gesamtschau, als Ort oder Hergang oder Blick auf die Welt.

Dabei sollte doch die Zumutung – die Umzingelung des Menschen durch übermäßig visionslose Realität –bei den umzingelten Subjekten in der Literatur eine Flucht, nein: einen Satz, also Sprung nach vorn auslösen, nicht, um der Umzingelung zu entkommen – dies wäre wohl illusionär – sondern um wenigstens den sie Umzingelnden, also auch dem Leser, mit einem unerwarteten Ruck zuletzt noch in die Flanken zu beißen.