Zeit der Glückseligkeit

Ein Brief aus der Zukunft

»DIE ZEIT«, 23. November 2017

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Ihr Lieben!
Als ihr auf die Welt kamt, wurde Deutschland von derselben Frau regiert, die euch auch durch die Kindheit und ein Stück in eure Jugend hinein begleitet hat. Wir fragten uns damals, ob dieser Umstand für eure Entwicklung von Belang wäre, euch gar prägen würde. Die Kontinuität erinnerte uns auf seltsam vertraute Weise an die Jahre, in denen in unseren Klassenzimmern das Porträt des immer selben Mannes gehangen hatte. Gleichzeitig wussten wir, dass dieser Vergleich nur zur Anekdote taugte. Wie alles, was unsere Vergangenheit mit eurer Gegenwart in einen Zusammenhang stellte.

Wir ahnten, dass wir später von dieser Zeit, euren Kinder- und Jugendjahren, als einer sprechen würden, in der es trotz allem noch relativ ruhig gewesen war im Land. Nicht dass wir uns für Ruhesuchende hielten. Wir waren durchaus begierig auf Veränderungen. Aber es erschien lächerlich zu glauben, es könnten Veränderungen hin zum Guten sein. Dann gab es wieder einmal Wahlen. Es stimmten nicht mehr ganz so viele Menschen für die Kanzlerin wie sonst. Danach hieß es, es ginge etwas kaputt im Land, die Zukunft sei ungewiss und die Frau in einer Krise, nach der nichts mehr so wäre wie zuvor. Angetrieben von dieser Aussicht, hielten wir Rückschau. Die ihr aber erst in zwanzig Jahren zu sehen bekommen soltet, wie wir uns versprachen.

Ihr wuchst in einer Inselwelt heran. Ein jeder suchte seine Insel der Glückseligkeit, was nicht mehr ironisch gemeint war. Aus dem Gewebe ‚Gesellschaft‘ waren einzelne Fetzen geworden, zwischen denen man sich bewegte, mehr oder weniger gewandt. Immer häufiger hatte man die Vorstellung, das Leben gliche einer Kugel in einem Flipperautomaten – auch deren Durchkommen hängt nicht von ihr selbst ab.

Oft lagen wir in den frühen Morgenstunden wach, zwischen vier und sechs, der Stunde der Abrechnung, der stillen Bilanz, der hochfahrenden Pläne, und waren froh, wenn einer von euch schließlich ebenfalls erwachte, der Tag fing an, Brote mussten geschmiert, Kaffee gekocht werden.

In dieser Zeit, der Zeit eurer Kindheit, ging es schon lange nicht mehr darum, aus dem Vollen zu schöpfen. Ihr gehörtet zur ersten reinen Generation des beständigen Weglassens. Die Hinweise ohne oder frei von haben euch von Anfang an auf strenge Art begleitet. Aus den Regalen voller Waren bekamt ihr oft das Asketischste, Reiswaffeln. Noch bevor ihr im Kleinkindalter eine Unterscheidung der Geschlechter traft, wusstet ihr, ob jemand Allergiekind war oder nicht.

Allem Exzessiven, jeder Überspanntheit wurde entgegengewirkt. Überzogene Affekte galten als ungehörig, jedenfalls offiziell. Wenn Sportler bei einem Wettkampf, für den sie jahrelang trainiert hatten, verloren, antworteten sie dem Fernsehreporter, es hat nicht sollen sein, wobei sie unschuldig in die Kamera lächelten.

Gleichzeitig sehnten sich alle nach dem Außerordentlichen, dem Extremen. Jeder wollte dabei sein, wenn dem anderen ein Ausraster oder Kontrollverlust passierte. Keiner wollte derjenige sein, der sich fehlverhielt.

In euren Kindergartengruppen war der Mittwochnachmittag für Ringen und Raufen reserviert. In der Schule habt ihr bei den Schlichtertagen mitgemacht. Der Dialog- und Konsensgedanke war selbstverständlich für euch. Alles konnte diskutiert und verhandelt werden. Es schien uns natürlich, unsere Absichten mit euch zu besprechen, eure Meinungen in unsere Pläne mit einzubeziehen. Aber wir übertrieben es nicht. Ihr ward nicht mehr Gegenstand von pädagogischen Experimenten. Wir wollten keine neuen Menschen aus euch machen.

In den offiziellen Diskussionen verstand man nicht, wie in einer vom Reden geprägten Gesellschaft immer noch Gewalt herrschen kann. Dass Menschen Lust auf eine Ansage, einen Befehl, ein Gehege, sogar den Tod haben können. Gewalt war aus der Mode. Aber aus der Mode sein heißt ja nur: für kurze Zeit den Blicken entzogen, unterirdisch weiterwirkend, Kräfte im Verborgenen sammelnd.

Wir lasen euch weniger Grimmsche Märchen vor als uns vorgelesen worden waren. Es gab so viele andere schöne Bücher. Die Zeit der Belehrungen war glücklicherweise vorbei. Die Helden in den Kinderbüchern eurer Zeit mussten nichts mehr beweisen. Sie hatten selbst noch als Hexe ein niedliches Gesicht und einen blonden Schopf und wie die Superhelden einen vernünftigen Kern. Anstatt vollkommen überdreht zu sein, waren sie immer nah an der Realität, eurer. Selbst wenn sie zum Vegetarismus aufriefen, taten sie es halbwegs diskret.

Die Erwachsenen damals, meist späte Eltern, waren rastlos auf der Suche nach Entlastung. Am Wochenende bewegte man sich zu Tausenden über Erdbeer- , Spargel- und Reiterhöfe, friedliche Anlagen seliger Erschöpfung, wo man sich dem Gefühl hingeben konnte, jeder käme auf seine Kosten. Immerhin brachte man seinen freien Tag nicht wie treuherzige Debile in Möbelhäusern und Grüne-Wiese-Centern herum. Wenn wir in den Wald gingen, waren es Baumwipfelpfade, Barfussparks oder Kletterwälder, die bei Einbruch der Dunkelheit schlossen. Als Kinder waren wir oft allein oder mit unseren Geschwistern in Wäldern unterwegs gewesen, wo wir Patronenhülsen gefunden oder Kaninchen gesehen hatten. Manchmal, in wütenden, entnervten Momenten, hielten wir euch das vor, was in Wahrheit natürlich nur heißen konnte: uns. Insgeheim wussten wir, dass wir euch um nichts in der Welt unsere Kindheit wünschten. (Was hatten wir all die Jahre über als Kinder gemacht? Diese enorme Masse vergeudeter Zeit erschreckte uns im Nachhinein.) Dagegen hätten wir sofort getauscht mit euren Kinderjahren, wenn die Möglichkeit bestanden hätte. Wir waren immer noch zu Verrücktheiten fähig. Dann gingen wir mit euch tatsächlich in die Natur, wir bauten aus Stöckern eine Bude, suchten Pilze. Es rauschte von ferne, irgendwo war eine Autobahn.

Bei Geburtstagsfeiern im Kreise der Familie saßen wir friedlich zusammen, die Großeltern liebten ihre Enkel, euch, mit denen sie Kreuzfahrten unternahmen, Ausflüge aller Art. Während ihr, mit einem Ohr unseren Gesprächen lauschend, am Smartphone Spiele spieltet, die Candycrush hießen oder Domination, erzählte einer der Großväter, dass er noch auf der Schiefertafel schreiben gelernt hätte, das war kaum siebzig Jahre her. Man lachte viel, die Großeltern besaßen Witz und Ironie und in den meisten Fällen Geld. Selbst denen mit wenig ging es immer noch besser als es für uns kommen würde, hieß es. Aber was das anging, wussten wir es nun wirklich besser. Schließlich lebten wir in einem System, in dem galt: Reichtum wird vererbt, Armut wird vererbt. Insofern hatte nur ein Teil von uns zu bangen.

Wir waren stolz, dass ihr auf die Frage, was würdest du dir wünschen, hättest du drei Wünsche frei, das neuste Handymodell erst auf Platz zwei setztet, nach dem Weltfrieden. (Das hattet ihr von uns!) Auch wenn wir die Naivität dieser Antwort insgeheim traurig belächelten. Was eure Zukunft anging, hofften wir nicht auf eine gerechtere oder gar friedliche Welt. Nur, dass ihr von ihren Ungerechtigkeiten und ihren kriegerischen Konflikten so lange wie möglich verschont bliebet.

Genau wie wir als Kinder hattet auch ihr Angst vor Krieg, wenn ihr im Radio davon hörtet. Die Angstregionen hatten sich geändert. Nur Afrika war noch immer der Kontinent, wo die Kinder sich freuen würden, wenn sie so viel zu essen hätten wie ihr. Eine Absurdität, über die wir, kaum war sie ausgesprochen, sogleich verlegen lachten. Ihr hieltet Trump oder Erdogan für Blödmänner, weil ihr unsere Kommentare am Frühstückstisch hörtet. Dabei waren wir nicht mal sicher, dass die Zukunft wegen dieser Männer tatsächlich bedrohlicher würde. Es hieß, die politische Lage sei instabil, aber eigentlich erschreckte uns das nicht. Angesichts unserer eigenen Vergangenheit glaubten wir nicht an einen Rhythmus der Geschichte, ihre Entwicklung. War nicht die Zukunft immer ein Springteufel, der aus der Kiste hopst?

Europa zerfiel wieder in seine Einzelteile. Währenddessen wurde überall seine Einheit beschworen. Aber es war eine Zeit, in der jeder auf sein Recht pochte. Meistens ging es um das Recht vorzukommen. Ein Leben, in dem man nicht vorkam, das heißt von der großen Masse der Anderen nicht als anders und einzigartig angesehen wurde, galt als vertanes Leben.

Die Sprechaktformen der Politiker in den Talkshows eurer Kindheit waren die Mahnung und der Appell. Wenn wir jetzt nicht… Wir müssen mit aller Kraft… Wir dürfen nicht… Ihr Dringlichkeitsgestus stand in diametralem Gegensatz zur Tatkraft, die sie bei uns und den Menschen um uns herum auslösten. Sie glichen dem stetigen Getropfe in großen unterirdischen Höhlen. Wir sahen ohnehin nur noch sehr selten fern. Die Zeit war zu schade dafür. Die Zeit.

Den meisten von uns ging es gut. Wir alle hatten Wohnungen (sie waren tendenziell zu klein und tendenziell zu teuer, natürlich!), wir hatten zu essen, wir gingen Berufen nach (sie waren tendenziell zu schlecht bezahlt), wir machten Ferien mit euch, immer wieder und trotz der GEFAHR auch im Ausland, schon aus einem Reflex heraus, weil wir mit dem Ausland gute Erinnerungen oder noch schönere Sehnsüchte verbanden. Im Sommer reisten viele Richtung Skandinavien. Die einzige Unvernunft, die man sich leistete: vor einem kalten Sommer in noch kältere Gebiete zu flüchten.

Während die Fiktionen in die Politik und die Wirtschaft abwanderten, suchten die Leute in der Literatur nach wahren Begebenheiten. Man dürstete nach autobiographischer Offenbarung. Selbst wenn sie nur als Gestus existierte. Das Private war zugleich das Persönliche war zugleich das Universelle. Die Formel am Beispiel von galt nicht mehr. Die Literatur hatte nicht länger eine Stellvertreterfunktion. Das Umweghafte war verhasst, man wollte alles konkret nehmen dürfen. Schicksal kam in den Romanen jener Jahre nur noch in Bezug auf die Großen Krankheiten vor, Alzheimer, Krebs. Schließlich unterwarf man sich ansonsten nichts und niemandem mehr. Sich zu unterwerfen wurde als Schwäche ausgelegt. Ihr wuchst in einer Welt voller Selbstbeherrschter heran.

Wenn wir am Wochenende zu Freunden fuhren, redeten wir am großen Esstisch in der Küche über das Bedingungslose Grundeinkommen. Grundloses Einkommen, sagten wir, halb im Ernst, lebten wir nicht schließlich grundlos? Während ihr im Kinderzimmer oder im Atelier Familie gespielt oder einen Lego-Star-Wars-Film geschaut habt, erörterten wir das Für und Wider der Idee. Nicht überhitzt, es waren keine Streitgespräche (wie wir im Übrigen über kaum ein Thema in überhitzter Stimmung stritten). Es war uns klar, dass es nicht um Moral, die Würde des Menschen oder gar den Freiheitsgedanken ging. Wir zählten auf die Flexibilität des Kapitalismus. Wenn ihr erwachsen wärt, sagten wir, wird das Grundlose Einkommen für den beständigen Geldfluss notwendig geworden sein. Wir versprachen uns für euch davon kein besseres Leben oder gar Rettung. Uns gefiel ganz einfach der Gedanke, es wäre einmal etwas grundsätzlich anderes.

Mit zehn oder elf Jahren erklärtet ihr euch zu Vegetariern, wir fanden es großartig und dachten uns im Stillen unseren Teil, nicht dass es verkehrt war, die armen Tiere!, aber ein bisschen verachteten wir euch dafür, dass ihr bei jeder Modewelle mitmachtet. Wenigstens ist der Tattoohype halbwegs durch, sagten wir. Wir hielten euch für zutraulich, um ehrlich zu sein, für stets ein wenig ahnungslos (ahnungsloser als wir, natürlich!), aber vielleicht waren wir nur neidisch.

Wir versuchten euch etwas beizubringen. Was? Aus Wissenssendungen auf dem Kinderkanal wusstet ihr schon im Grundschulalter fast alles über den Klimawandel, über Ökologie und Waffenhandel. Mit vierzehn wart ihr Reiseblogger.

Wir waren innerlich zerrissen: Was wir wertschätzten, Dinge, Prozesse, Situationen, würde nichts mehr wert sein, wenn ihr erwachsen wärt (eine Handschrift entwickeln, die Rechtschreibung beherrschen – welche?! –, Schuhpflege, Geld sparen, Briefe schreiben, richtig studieren). In gewisser Weise gaukelten wir euch die Wertschätzung all dieser Dinge vor. Angesichts dieses Umstands hielt man sich vielleicht besser ans Detail, an die Nahaufnahme. Eine Blume lügt nicht!, warf irgendwer in die Runde, aber zu dem Zeitpunkt waren meistens schon zwei Flaschen Martini geleert.

Die Namen eurer Freunde lauteten Oskar, Emil, Karl, Leo, Elias, Noah oder Joshua. Bei den Mädchen endete fast jeder auf a. Wenigstens in dieser Hinsicht war Italiens Glorie ungebrochen. Wie unsere Tanten und Onkel geheißen hatten, wurde niemand mehr genannt, Marlies, Roswitha, Manfred oder Helmut.

Immer lag etwas in der Luft. Man empfand sich beständig wie kurz vorm Wegbrechen. Umwelt, Atom, Kriege, Irrationalität, Ressourcen. Die Welt als Ganzes würde bald nicht mehr existieren, der Mensch als Gattung schaffte sich selbst ab! Aber die Drohungen verfingen nicht. Wir machten uns Vorwürfe deswegen, schämten uns. Nicht mal um der Kinder willen, für euch, gelang es also, sein Leben zu ändern.

Vielleicht lag es daran, dass wir wussten, ihr würdet uns nicht brauchen, später. Ihr würdet Strategien und Überlegungen entwickeln, die mit unseren nichts zu tun hätten, so wie wir Überlegungen und Strategien entwickelt hatten, ohne die Hilfe unserer Eltern. (Lange nach dem Studium lasen wir bei einem französischen Soziologen den Begriff, der unser Manko beschrieb. Was uns gefehlt hatte nach der Revolution und dem Übertritt in ein anderes System war „soziales Kapital“. Wir hatten es immer gespürt, nun hatten wir den Begriff für unsere Verlorenheit, die treue Begleiterin.)

Genau wie wir früher unsere Eltern habt ihr uns um Haustiere angebettelt, Hund Katze Meerschwein, wir brachten dieselben Argumente wie unsere Eltern ins Spiel, mit dem Unterschied, dass uns die Wiederholung bewusst war. Wir schafften uns trotzdem keins an.

Die meistgebrauchten Adjektive damals waren: spannend und genial.

Sehr viele Menschen dachten, von mir hat keiner Ahnung.

Bestimmte Wörter kamen nur noch im Märchen vor: Rache, Demut, Scham, Schicksal, Verrat, Sehnsucht.

Die Frauen konnten alles tun, sie hatten nichts mehr zu verlieren. Sie taten trotzdem nicht alles.

Wir konnten uns für eure Zukunft kein Leben denken, nur drei Wünsche hatten wir. Großzügigkeit – in den Dingen des Herzens, fügten wir sicherheitshalber hinzu, damit ihr uns auch verstandet.

Einen Hang zur Diskretion, auf dass ihr euer Geheimnis nur sehr wenigen schenkt.

Und eine Fähigkeit zum Feiern. Nicht rauschende Bälle, auch kein verlegenes Herumgestehe, bei dem man sich gegenseitig die gelungenen Lebensläufe präsentiert, als wäre der andere das Mitglied irgendeiner Jury. Die Pracht eines Festes, irgendwo unter dem Dach, verschworene Gäste und vertrauliche Rituale, bei denen eure Augen leuchten, so wie die Augen früher als Kind, wenn mit euch angestoßen wurde. Auf dass ihr wenigstens für ein paar Augenblicke in eine andere Zeit einträtet als nur in die gewöhnliche.